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Die Angst vor Russlands Ölindustrie

Volos 2019 | Tatiana Kondratenko
Tatiana Kondratenko
29. Mai 2021

Ein Jahr nach der Ölkatastrophe von Norilsk leckt in der Region schon wieder eine Pipeline. Russische Ölfirmen fürchten Transparenz. Dabei könnte genau sie gegen Ölunfälle helfen, meint Tatiana Kondratenko.

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Drei Männer am Flussufer schaufeln Ölschlamm aus dem Wasser in kleine Behälter
Russische Behörden bekämpfen erneut eine Ölpest am Fluss Kolva in der Region Komi Bild: Press service of the Komi Republic Head/TASS/dpa/picture alliance

"Hier kommt das Öl aus dem Hahn" - ein Satz, den ich gut aus meiner Kindheit im Herzen der russischen Ölregion, der Republik Komi, kenne. Er ist verbunden mit Erinnerungen an -40 Grad Celsius im Winter, das ständige Klopfgeräusch der Öltürme und Moskito-Wolken im Sommer.  

Tatsächlich kommt das Öl dort nicht aus dem Hahn - dafür aber allzu oft aus undichten Rohren.

Weiteres Leck zum Jahrestag der Norilsk-Katastrophe

Und es ist wieder passiert, ein weiterer Ölunfall, fast pünktlich zum Jahrestag der Norilsk-Katastrophe im vergangenen Jahr, die die russische Arktis mit über 20.000 Tonnen Diesel verseuchte.  

Portrait von DW Reporterin
DW-Redakteurin Tatiana Kondratenko

Am 11. Mai bekam ich eine Nachricht aus meiner Heimatstadt Usinsk. Entlang des Flusses Kolva, wo die Leute gerne angeln gehen, war Öl ausgetreten. Der Bürgermeister der Stadt rief den Notstand aus, nachdem schon 90 Tonnen Schweröl ausgelaufen waren. Etwa neun Tonnen waren schon bis in den Fluss gelangt, als die Sanierungsarbeiten begannen. 

Der Unfall ging von einer Pipeline von Lukoil aus - einem der Ölgiganten des Landes und einem der größten Akteure in Komi. Lukoil behauptet, die Aufräumarbeiten seien nun fast abgeschlossen. Gleichzeitig teilen Anwohner, die mit ihren Booten auf dem Fluss unterwegs sind, Videos und Fotos in den sozialen Medien, die ein anderes Bild zeichnen: Der Ölteppich bewegt sich immer noch weiter nach Norden - in Richtung Barentssee und des Arktischer Ozean.  

Teil der Normalität

Öllecks gehören in der Region schon lange zur Normalität. Das einzige Mal, dass meine verschlafene Heimatstadt weltweit Schlagzeilen machte, war 1994, wegen einer der größten Ölkatastrophen an Land überhaupt. Sie hat es damit sogar zu einem Eintrag ins Guiness-Buch der Rekorde gebracht.

Ich konnte keine Zahlen darüber finden, wie viele Fälle von Ölaustritten es in Komi jedes Jahr gibt. Für das ganze Land meldete das russische Energieministerium im Jahr 2019 mehr als 17.000 Öllecks. Die Daten basieren auf Unternehmensberichten. Das Gesamtbild bleibt aber unvollständig. Denn für Außenstehende ist es schwierig und sogar gefährlich, nachzuforschen, wie es vor Ort wirklich aussieht.

Hände weg von Russlands heiliger Kuh 

Wenn ich an die russische Ölindustrie denke, kommt mir der gute alte Lew Tolstoi und seine Anna Karenina in den Sinn: "Im Hause der Oblonskis herrschte große Verwirrung”. Soll heißen: Es ist sehr kompliziert.  

Für Russlands Wirtschaft ist die Branche extrem wichtig - eine heilige Kuh sozusagen. Viele Ölgiganten haben Beziehungen zur Regierung und sind so gut wie unantastbar. Für russische Arbeiter ist die Ölförderung eine der wenigen Branchen, die ihnen noch relativ gute Gehälter und Stabilität bietet. 

Die schrillen Bilder von reichen russischen Öl-Oligarchen, die in den französischen Alpen Ski fahren und Privatjets mieten, sind Ausnahmeerscheinungen. Viele von ihnen holten sich ihr Stück vom Öl-Kuchen in den verrückten 1990er-Jahren, als die UdSSR zusammenbrach. Damals war in Russland alles möglich, sogar ein eigener Ölbohrtum.

Heute lebt und arbeitet ein gewöhnlicher Ölarbeiter in Komi unter harten klimatischen Bedingungen für einen Monatslohn von umgerechnet etwa 2200 Euro. Ihre Kollegen in Kanada oder Norwegen können darüber wahrscheinlich nur lachen.

Die Angst ist allgegenwärtig  

Wer das Glück hat, in der Branche einen Arbeitsplatz zu ergattern (oft dank Vetternwirtschaft), will ihn nicht mehr hergeben. Obwohl die Arbeiter jeden Tag mit den Problemen einer rostenden Infrastruktur zu kämpfen haben, wagen sie es nicht, den Mund aufzumachen oder sich gar zu beschweren. 

Jedes meiner Gespräche mit einheimischen Ölarbeitern im Norden Russlands habe ich anonym geführt. Die Angst ist allgegenwärtig. Und wenn ich sehe, wie Journalisten, die über die Ölunternehmen berichteten, zu Geldstrafen von bis zu 479 Millionen Euro verurteilt werden, habe auch ich Angst, dieser Industrie zu nahe zu treten. Diese Angst erzeugt eine Selbstzensur: Ich denke an meine Angehörigen und an mögliche Konsequenzen, die drohen könnten.   

Angst und Intransparenz begleiten das Geschäft und das schadet sogar der Industrie selbst.

Transparenz als Chance

Russlands Öl-Infrastruktur ist gewaltig: Das Netz aus Pipelines ist so lang, dass es die gesamte Erde mehr als einmal umrunden könnte. Doch das in der Sowjetzeit gebaute Netz hat sein Verfallsdatum erreicht. Die Rohre müssen kostspielig ersetzt werden und benötigen neue Technologien zur Überwachung ihres Zustands. 

Transparenz und öffentlich zugängliche Informationen zum Austritt von Öl und Unfällen sind keine Bedrohung für die Industrie. Es wird unterschätzt, wie groß die Chance und das Potenzial ist, Russlands Ölindustrie durch Transparenz aufzuwerten und so neue Umweltkatastrophen zu vermeiden.

Auch Bürger, Umweltorganisationen und Journalisten könnten dabei helfen, das riesige Pipelinesystem zu überwachen, das in den abgelegenen Gebieten so schwer überschaubar ist. Da das Land vorerst auf dem Pfad der fossilen Brennstoffe bleiben will, könnte das sogar der letzte Rettungsanker sein, um das angeschlagene Image der Branche noch zu retten. Und das Chaos im Hause Oblonski endlich aufzuräumen.

Dieser Text wurde aus dem Englischen adaptiert.