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"Historisch" muss selbstverständlich werden

Tim Schauenberg
20. November 2022

Die COP27 kann nur einen einzigen "historischen Erfolg" verbuchen. Dies wird in Zukunft nicht mehr reichen, meint Tim Schauenberg. Um die globalen Klimaziele einhalten zu können, muss "historisch" zur Regel werden.

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Eine Klimaaktivistin hält auf der Weltklimakonferenz COP27 in Scharm el-Scheich ein Plakat mit der Aufschrift "We are Watching"
Bild: Mohamed Abd El Ghany/REUTERS

Nachdem die 27. Weltklimakonferenz (COP) am Samstagmorgen noch ohne Ergebnis zu scheitern drohte, hat man sich nun doch in nächtlichen Verhandlungen mit rund 36 Stunden Verspätung keuchend über die Ziellinie gerettet. Zu Buche steht ein enttäuschendes Ergebnis und ein großer Erfolg.

Das Gute zuerst: Der Aufbau eines Fonds zur Entschädigung besonders betroffener Länder für die Verluste und Schäden durch den Klimawandel ist ein längst überfälliger Meilenstein der internationalen Klimadiplomatie. Reiche Länder, allen voran die USA und die EU, hatten sich seit Jahren gegen dieses Konzept gesträubt. In Scharm el-Scheich ist der Durchbruch gelungen, vor allem durch einen Vorstoß der EU, grundsätzlich von seiner Haltung, andere Finanzinstrumente zu bevorzugen, abzuweichen.

Entschädigungsfonds ist großer Schritt für Klimagerechtigkeit

Reiche Länder werden in Zukunft mehr finanzielle und nicht profitorientierte Verantwortung für die Schäden des Klimawandels, den sie selbst zu großen Teilen verursacht haben, übernehmen müssen. Die Vereinbarung wird von den Vereinten Nationen und vielen Medien als "historisch" bezeichnet. Über die Details wer wieviel und an wen zahlt, wird nächstes Jahr bei der Klimakonferenz in den Vereinigten Arabischen Emiraten noch hart verhandelt werden.

Abgesehen davon sollte das angesichts der Klimakatastrophe, auf die wir derzeit mit Vollgas zusteuern, allerdings nicht "historisch", sondern selbstverständlich sein. Und ich möchte an dieser Stelle den Wert des Erreichten nicht schmälern. Durch die klimadiplomatische Brille ist es ein historischer Schritt zur Anerkennung der Verantwortung reicher Länder gegenüber besonders betroffenen Ländern im globalen Süden. Und es ist ein großer Schritt hin zu mehr Klimagerechtigkeit.

2022 ist ein verschenktes Jahr

Und dennoch: Zwischen der Logik und den Maßstäben der Klimadiplomatie, die derzeit unter dem Einfluss der Energiekrise und verschiedenster Interessen steht, und dem, was wir auf klimawissenschaftlicher Basis als "historischen" Fortschritt bewerten können, liegen Welten. Die COP sollte eine Klimakonferenz der Umsetzung sein. Eine Konferenz realer, echter Fortschritte, um den Klimawandel auf 1,5 Grad oder deutlich unter 2 Grad zu begrenzen. 

Was zu Buche steht, ist, dass das Jahr 2022 ein verschenktes Jahr ist. Die einzigen positiven Ankündigungen in Sachen Verringerungen der Emissionen sind Brasiliens Vorhaben unter dem neugewählten Präsidenten Lula, die Entwaldung einzustellen und Chinas Plan weniger Methan auszustoßen. Was man hier einspart, wird allerdings gleich von neuen Investitionen in Gasinfrastruktur, auch Deutschlands im Senegal, wieder aufgehoben. Womit wir wieder bei Null wären. 

Tim Schauenberg
DW-Redakteur Tim Schauenberg berichtet von der Weltklimakonferenz in der ägyptischen Stadt Sharm el-Scheich Bild: DW/P.Böll

Es bleiben also nur noch sieben Jahre, um die weltweiten Emissionen bis 2030 etwa zu halbieren und die tödlichen Folgen von Hitzewellen, Stürmen, Überschwemmungen und dem Ansteigen des Meeresspiegels einer Erderwärmung über 1,5 Grad zu begrenzen.

Stattdessen ging es beim COP27 um diplomatische Scharmützel. Samstagmorgen stand die Konferenz sogar noch vor dem Aus, weil die ägyptische Präsidentschaft einen Text vorgelegt hatte, der vor allem den Öl- und Gasproduzenten dieser Welt hatte gefallen dürfen. Darin war nicht mal die Rede von stetig steigenden Klimazielen. Das 1,5-Grad-Ziel wäre damit begraben worden. Die Konferenz stand vor dem Scheitern.

Die Zeit läuft davon

Für solch ein politisches Hin und Her haben wir schlicht keine Zeit! Hat man dann am Nachmittag wieder "große Fortschritte" in Sachen Klimadiplomatie und Rettung der Konferenz gemacht, wie es zu dem Moment aus Verhandlungskreisen der EU hieß, kann die Klimawissenschaft nur mit den Schultern zucken. Um das 1,5-Grad-Ziel zu erreichen und für mehr Klimagerechtigkeit zu sorgen, brauchen wir von nun an jedes Jahr "historische" Ergebnisse in allen Bereichen - Emissionen, Anpassung, Schäden und Verluste -, um eine der historisch größten Krisen der Menschheit zu bewältigen. 

Anfangen ließe sich mit einer historischen Vereinbarung zum weltweiten Ausstieg aus Kohle, Öl und Gas. Aber genau dieser Vorschlag Indiens mit Unterstützung anderer Entwicklungsländer und der EU hat es nicht in den Abschlussbericht geschafft.

Diplomatische Verhandlungserfolge dürfen beim Klima keine Ausnahme mehr sein, "historisch" muss in diesen Zeiten selbstverständlich werden. Wenn es der Klimadiplomatie nicht gelingt in den kommenden Jahren mehr, mehr und noch mehr für das 1,5-Grad-Ziel zu erreichen und wir stattdessen irgendwann wie selbstverständlich von einer Erderwärmung von zwei oder drei Grad sprechen, werden wir uns historisches Versagen vorwerfen müssen. Und das will selbstverständlich keiner.