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Gesellschaft

Freundschaft ist wichtiger als der Impfstatus

25. Dezember 2021

Meine Wut auf Ungeimpfte ist weg. Denn diese rettet kein einziges Menschenleben, meint Astrid Prange de Oliveira. Ein Plädoyer für mehr Empathie und weniger Lagerdenken während der Corona-Pandemie.

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Pflegerin von Corona-Patienten auf der Intensivstation - fotografiert durch ein rundes Türfenster, das mit Schneekristallen verziert ist
Die Pandemie tobt seit bald zwei Jahren, doch das Pflegepersonal in den Kliniken hält weiter durch Bild: Jens Büttner/dpa/picture alliance

Er liegt auf der Intensivstation. Im künstlichen Koma. Erst COVID-19, dann Lungenentzündung, und nun auch noch eine Blutvergiftung. Seit Tagen kämpft mein langjähriger Freund aus Jugendtagen um jeden Atemzug. Und ich bange und zittere mit ihm um sein Leben - so wie seine Angehörigen und viele andere Freunde auch.

Wahrscheinlich wäre ihm die Hölle der künstlichen Beatmung und des Komas erspart geblieben, hätte er sich impfen lassen. Er tat es nicht. Ich weiß nicht, warum.

Erst überleben, dann streiten

Was ich hingegen sicher weiß: Angesichts seines Betts auf der Intensivstation ist meine Wut auf Ungeimpfte verflogen. Sie hat sich in Luft aufgelöst. Ich wünsche meinem Jugendfreund einfach nur, dass er wieder gesund wird.

Der Kampf ums Überleben, an dem ich aus der Ferne teilhabe, zehrt alle Kräfte auf. Ich spüre: Es gibt keine Reserve für Wut und Aggression. Was bleibt, sind Leere, Erschöpfung, Verzweiflung und ein Fünkchen Hoffnung. Jeder Blutwert, der sich verbessert, jedes Antibiotikum, das anschlägt, nährt Zuversicht. Die Sorge um einen geliebten Menschen stellt alle anderen Gedanken in den Schatten.

DW | Astrid Prange De Oliveira, Kommentarbild | PROVISORISCH
DW-Redakteurin Astrid Prange de OliveiraBild: Florian Görner/DW

Um Missverständnissen vorzubeugen: Ich bin dreifach geimpft und dankbar und erleichtert über meinen Impfstatus. Mir ist sowohl der persönliche Schutz als auch der Schutz unseres Gesundheitssystems vor Überlastung ein wichtiges Anliegen.

Pandemie der Emotionen

Doch diese Pandemie bringt mich immer wieder ins Grübeln und an meine Grenzen. Natürlich hätte ich meinem Freund geraten, sich impfen zulassen. Er hat nie über seine Zweifel gesprochen. Nun ist es müßig, darüber zu streiten.

Und ganz ehrlich: Ich möchte auch nicht mehr darüber streiten. Ich bin müde und mürbe von den ewigen Auseinandersetzungen zwischen Impfgegnern und Impfbefürwortern, von der Debatte über Kontaktbeschränkungen, Lockdowns und absurde Mutmaßungen über die angeblich heimlichen Drahtzieher der Pandemie.

In den vergangenen Tagen haben die Impfbefürworter eine stille Massenbewegung losgetreten. "Aufstand der Anstehenden" hat die Tageszeitung "taz" die Millionen von Menschen genannt, die in den vergangenen Tagen Schlange für eine Impfung standen.

Stigmatisierung hilft nicht weiter

Impfen rettet Menschenleben, Selbstgerechtigkeit und Rechthaberei hingegen nicht. Immer wieder drängt mir diese Pandemie ein Freund-Feind-Schema auf. Ein verzerrtes Bild, das nicht der Wirklichkeit entspricht, und das niemandem weiterhilft.

Denn nicht jeder, der nicht oder noch nicht geimpft ist, ist ein Impfgegner. Nicht jeder, der die Maske unter der Nase trägt, ist zwangsläufig ein Maskengegner. Nicht jeder, der in Corona-Zeiten auf eine Party geht, mutiert zum Superspreader.

100.000 COVID-Tote in Deutschland

Es ist schwer, sich diesem Lagerdenken zu entziehen. Genau das jedoch ist für mich das Gebot der Stunde. Ich freue mich über jede zusätzliche COVID-19-Impfung, und gleichzeitig möchte ich mit ungeimpften Menschen weiterhin im Gespräch bleiben und weder stigmatisieren noch stigmatisiert werden.

Leider gelingt dies nicht immer. Doch der Gedanke an meinen langjährigen Freund auf der Intensivstation ermahnt mich, es immer wieder zu versuchen. Empathie ist mir wichtiger als Ideologien und Überzeugungen.

Welle gesellschaftlicher Solidarität

Seit dem Ausbruch der Pandemie vor zwei Jahren gab es eine Welle politischer Radikalisierung in Deutschland. Es gab aber eine noch größere Welle gesellschaftlicher Solidarität.

Ich bin erstaunt darüber, wie stark der gesellschaftliche Zusammenhalt trotz der enormen Belastungen durch die Pandemie immer noch ist. Gerade auch auf den Intensivstationen.

Dafür bin ich zutiefst dankbar. Denn ohne diese Solidarität und Empathie gäbe es keinen Lichtblick in einer Pandemie, die weltweit bereits mehr als fünf Millionen Menschen das Leben gekostet hat.