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Historisches Urteil in einem der letzten NS-Prozesse

Luisa von Richthofen +++NUR als Kommentarbild für die App geeignet!+++
Luisa von Richthofen
20. Dezember 2022

Für ihre Tätigkeit als Sekretärin im Konzentrationslager Stutthof wurde Irmgard F. nun verurteilt. Luisa von Richthofen, die den Prozess für die DW begleitet hat, sieht in dem milden Urteil dennoch Gerechtigkeit.

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Irmgard F. im Gericht verpixelt
Irmgard F. - der Beihilfe zum Mord in mehr als 10.500 Fällen schuldig gesprochenBild: Daniel Reinhardt/dpa/picture alliance

Es ist kein ganz normaler Tag im ansonsten recht normalen Städtchen Itzehoe. Dort fiel an diesem Dienstag um kurz nach zehn Uhr das Urteil in einem der letzten NS-Prozesse: Irmgard F., 97 Jahre alt, wurde zu einer Strafe von zwei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt. Der Vorwurf lautet: Beihilfe zum Mord in Tausenden von Fällen.

Frau F. war in ihrer Jugend Schreibkraft im Konzentrationslager Stutthof. Als Sekretärin des Lagerkommandanten hat sie dazu beigetragen, dass die Tötungsmaschinerie reibungslos lief. Dafür musste sie sich nun verantworten. Das Urteil ist für mich historisch.

Eines der letzten Verfahren dieser Art

Das hat erstmal damit zu tun, dass mit Frau F. eines der letzten Glieder einer langen Kette von Tätern und Mittätern des Massenmordes an den europäischen Juden vor Gericht stand. Sie ist auch die erste Zivilangestellte (d.h. das erste nicht SS-Mitglied), der ein solcher Prozess gemacht wurde. Damit zeigt die deutsche Justiz endlich deutlich: Jeder und jede, der oder die sich in der NS-Zeit am Funktionieren des Lagersystems beteiligt hat, muss dafür eines Tages geradestehen.

Luisa von Richthofen
DW-Redakteurin Luisa von RichthofenBild: privat

Zweitens wird durch das Urteil mehr über Stutthof bekannt. Derartige Verfahren ziehen immer auch umfassende Ermittlungen mit sich. In den gut 14 Monaten seit Prozessbeginn sind die Akten erheblich angeschwollen. 14 Zeuginnen und Zeugen sagten aus, davon acht, die selbst Überlebende des KZ-Stutthof sind. Manche traten mit ihrer Geschichte zum ersten Mal an die Öffentlichkeit. All das ist keine juristische Papierschieberei. Es sind wichtige historische Zeugnisse und Erkenntnisse.

Was es den Hinterbliebenen bedeutet

Dieser Prozess hat drittens gerade für die Hinterbliebenen möglicherweise eine heilende Wirkung. Hier, vor einem deutschen Gericht, werden ihr Leid und ihre schrecklichen Erfahrungen im Lager anerkannt. Darauf haben manche ihr Leben lang warten müssen. Sie haben mir persönlich von der Not und den Selbstzweifeln erzählt, die sie über Jahre quälten, bis sie sich gar nicht mehr sicher waren, ob das Grauen der Lager nicht ein schlimmer Traum war. Das hat nun ein Ende. Zum Glück.

Letztens besteht vielleicht die Hoffnung, dass dieses Signal auch ein weltweiter Weckruf und eine Warnung ist. Und dass sich die Täter von Butscha (Ukraine), Mai Kadra (Äthiopien) oder Aleppo (Syrien) nicht mehr so straffrei durch die Welt bewegen können.

Viele Fragen bleiben offen

Ich habe in Gesprächen immer wieder Zweifel wahrgenommen, die auch ich bis zu einem gewissen Punkt teile. Fragen drängen sich auf: Warum erst jetzt, nach 78 Jahren? Warum haben sogar die späten Ermittlungen gegen Irmgard F. noch vier Jahre gedauert? Was macht eine kleine Nummer wie sie, eine alte Frau, zu einem Symbol des Mordsystems? Warum zerrt man eine Greisin ins grelle Licht der Weltöffentlichkeit, während ein wirklicher Täter, wie ihr Chef Lagerkommandant Paul Werner Hoppe, nach drei Jahren Zuchthaus aus dem Gefängnis kam? Wie viele andere NS-Verbrecher führte er von da an ein ungestörtes Leben in der neuen Bundesrepublik.

Später Prozess gegen ehemalige KZ-Sekretärin

Diese Fragen kann und muss man sich stellen. Insgesamt habe ich das Gefühl, dass mit dem recht milden Urteil der Gerechtigkeit dann doch Genüge getan wurde. Und das ist, bei allen Zweifeln, doch ein Lichtblick in diesen dunklen Tagen.