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PolitikEuropa

Die neue Ukraine ist Putins Albtraum

Roman Goncharenko (DW)
Roman Goncharenko
23. August 2022

In Trauer, aber trotzig feiert die Ukraine am Mittwoch ihren Tag der Unabhängigkeit - genau sechs Monate nach dem Überfall Russlands. Eine neue Ukraine ist entstanden und ihre Kraft wächst, meint Roman Goncharenko.

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Europas größte Stahlskulptur vor der Skyline von Kiew: Eine Frauenstatue, die ein Schwert und einen Schild mit sowjetischem Wappen hochhält
Das gigantische Mutter-Heimat-Denkmal in Kiew stammt aus sowjetischer Zeit und steht doch sinnbildlich für die heutige UkraineBild: Anna Fil/DW

"Warum habe ich dieses Land nicht vor dem Krieg besucht?", twitterte neulich eine deutsche Journalistin aus der Ukraine. Sie ärgerte sich darüber, dass sie die prachtvollen Städte Lwiw oder Odessa nicht ohne Straßensperren gesehen hatte. Diese Frage stellen sich viele im Westen, die seit dem russischen Überfall im Februar in die Ukraine gereist sind. Medienleute, Politiker und die zahlreichen Helfer waren oft zum ersten Mal dort. Seit dem Zerfall der Sowjetunion 1991 hat das Land noch nie so viel Aufmerksamkeit bekommen. Reisetipps, die erst der Krieg gab.

Die Kollegin ärgerte sich zu Recht. Sie hat etwas verpasst, was es so nie wieder geben wird. Es geht um mehr als allein die sichtbaren Kriegsspuren. Die alte, stark postsowjetisch geprägte Ukraine stirbt gerade im russischen Bombenhagel: Menschen, Häuser, Fabriken - und Illusionen. Das positive, geradezu brüderliche Verhältnis zu Russland wird nie wieder so sein wie vor dem Krieg. Die Entfremdung der beiden Völker, die nach der Krim-Annexion 2014 begonnen hatte, könnte inzwischen größer nicht mehr sein. Hass und Wut werden Generationen prägen.    

Die größte Bedrohung seit 100 Jahren

Mit einer Mischung aus Trauer, Tränen und Trotz feiert die Ukraine am 24. August ihren Unabhängigkeitstag - zum achten Mal mitten im Krieg. Diesmal ist dieses Datum eine besondere Zäsur: Es sind auf den Tag genau sechs Monate, seit Russland versucht, die ukrainische Unabhängigkeit barbarisch zu zerstören. Die Bilanz bisher: Die Ukraine blutet und leidet, aber sie steht. Sie kämpft!

Goncharenko Roman Kommentarbild
DW-Redakteur Roman Goncharenko

Die Bedrohung für Land und Volk ist so elementar wie zuletzt vor rund 100 Jahren. Damals haben die Bolschewiken die kurze ukrainische Unabhängigkeit niedergeschossen und danach die Ukraine in der Tradition des zaristischen Russlands russifiziert. Kann sich Geschichte wiederholen?

Kein Zweifel: Der russische Präsident Wladimir Putin hat genau das vor. Seine als propagandistisches Ziel deklarierte "Denazifizierung" der Ukraine ist nichts anderes als eine De-Ukrainisierung. Aus den russisch besetzten Gebieten kommen Berichte darüber, wie alles Ukrainische, vor allem die Sprache, verdrängt und zerstört wird. Putins wahnsinniger Plan besteht darin, die Ukraine in einem Zermürbungskrieg zu vernichten. Doch er wird damit scheitern.

Die "Generation Unabhängigkeit" kämpft

Der Kremlchef hat seinen Feldzug gegen die alte Ukraine begonnen. Sie schien ihm eine leichte Beute: wirtschaftlich und militärisch deutlich schwächer als Russland, politisch oft zerstritten, gesellschaftlich gespalten, vom Westen nur halbherzig unterstützt. Vieles davon ist eine Tatsache gewesen und doch war es eine kolossale Fehleinschätzung. Sechs Monate später hat es Putin mit einer neuen Ukraine zu tun, die gerade erst entsteht. Die Konsolidierung begann schon früher, doch der russische Überfall hat alles beschleunigt. Die neue Ukraine verabschiedet sich in Eiltempo von allem, was das Land über Jahrzehnte, gar Jahrhunderte an Russland gebunden hat: Sprache, Straßenamen, Denkmäler. Das Wichtigste: Die neue Ukraine lernt, sich selbst zu verteidigen. Und sie lernt schnell.

Diese neue Ukraine ist militärisch so stark wie nie zuvor und sie wird immer stärker - mit westlicher Hilfe, klar, aber auch aus eigener Kraft. Anders als vor 100 Jahren hat die heutige Ukraine einen entscheidenden Vorteil: die "Generation Unabhängigkeit". Der noch in der Sowjetunion geborene ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj gehört mit seinen 44 Jahren gerade noch dazu. Der Kern des Widerstands sind aber die 20- bis 30-jährigen jungen Männer und Frauen, die an der Front ihr Leben opfern, als zivile Freiwillige unermüdlich die Armee versorgen oder sich um Binnenflüchtlinge kümmern. Es ist eine Generation, für die alles Ukrainische selbstverständlich ist. Dafür kämpft sie und will und wird siegen. Diese neue Ukraine ist Putins Alptraum.