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Politik

Eine große Chance für Chiles Linke

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Emilia Rojas
20. Dezember 2021

Das Ergebnis der Stichwahl um das Präsidentenamt ist eindeutig und bestätigt den Wunsch der Chilenen nach Veränderung. Er ist eine klare Zustimmung für einen Weg, der aber nicht einfach sein wird, meint Emilia Rojas.

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Jubelnde Anhänger des gewählten Präidenten Boric. Im Zentrum des Bildes hält ein gut gelaunter junger Mann eine chilenische Flagge hoch, in deren weißem Feld "Boric Presidente" steht
Die Anhänger von Gabriel Boric zogen am Sonntag in Massen durch die Straßen der chilenischen HauptstadtBild: Martin Bernetti/AFP

Die Hoffnung hat über die Angst vor der Ungewissheit gesiegt. Und das mit einem beeindruckenden Resultat. Mit dem Sieg von Gabriel Boric in der zweiten Runde der Präsidentschaftswahlen ist der Weg für einen Strukturwandel hin zu einem gerechteren Gesellschaftsmodell in Chile frei geworden.

Die große Überraschung ist das komfortable Ergebnis von Boric mit einem Vorsprung von mehr als elf Prozentpunkten. Das ist kein knappes Votum, sondern eine klare Aussage, die auch einen großen Teil der Mitte einbezog, die nach der ersten Runde nicht mehr im Rennen war. Der Sieg war so eindeutig, dass der Rechtspopulist José Antonio Kast seine Niederlage schnell einräumte, als kaum 50 Prozent der Stimmbezirke ausgezählt waren. Ein gutes Zeichen für die kommenden Zeiten. 

Mehr Legitimität durch hohe Wahlbeteiligung

Ein weiteres gutes Zeichen war die hohe Wahlbeteiligung, die der nächsten Regierung mehr Legitimität und eine breite Basis verleiht. In bester demokratischer Tradition gratulierten sowohl der unterlegene Kandidat als auch der scheidende Präsident Sebastián Piñera dem Gewinner und wünschten ihm viel Erfolg.  

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DW-Redakteurin Emilia Rojas

Wie sehr unterschied sich der Ton dieses Sonntagabends, der zu einer Art großem Fest der Demokratie wurde, von dem, der zuweilen während des Wahlkampfs zu hören war hatte. Hoffentlich bleibt das auch in den kommenden Monaten so, wenn die neue Regierung ihre Arbeit aufnimmt, die nicht einfach sein wird. Auf den jungen Schultern von Gabriel Boric - er ist gerade mal 35 Jahre alt - ruht nun die Verantwortung, das Land in eine neue Richtung hin zu Integration und Solidarität zu führen, die in einem wohlfahrtsorientierten Staat zum Ausdruck kommt. Dabei muss er sicherstellen, dass sein Reformzug nicht aufgrund von zu hoher Geschwindigkeit entgleist.  

Er muss dem Drängen der traditionellen Eliten widerstehen, die an ihren Privilegien festhalten wollen und sich zugleich dem Druck seines eigenen Lagers stellen, das baldige Ergebnisse fordern wird. Er wird die Menschen davon überzeugen müssen, dass Geduld eine Tugend ist, wenn es ein klares Ziel und einen klar definierten Weg gibt. Und er wird die Unternehmer davon überzeugen müssen, dass es auch in ihrem Interesse ist, auf diesen chancenreichen Zug aufzuspringen. Denn das beste Umfeld für die Wirtschaft ist letztlich ein Land mit sozialem Frieden, ohne den jede Stabilität letztlich illusorisch ist. Dies ist eine der Lehren aus den Protesten im Oktober 2019. 

Bildung und ärztliche Versorgung für alle ist keine Utopie

Boric und die chilenische Linke haben die einmalige Gelegenheit zu zeigen, dass die Verheißung des Fortschritts nicht das ausschließliche Erbe eines extremen Neoliberalismus ist, der die vielen ausschließt, die nicht in der Lage mithalten können. Eine Gelegenheit, um zu zeigen, dass es selbst in Lateinamerika möglich ist, die abgrundtiefen sozioökonomischen Unterschiede zu verringern, ohne die Wirtschaft in den Abgrund zu reißen. Und um all jene zu widerlegen, die jeden Ruf nach sozialer Gerechtigkeit als linksextrem abqualifizieren.

Der Wunsch nach einer qualitativ hochwertigen, für alle zugänglichen Bildung ist keine Utopie. Ebenso wenig wie ein solidarisches Gesundheitssystem, in dem diejenigen, die mehr haben, die Schwächeren unterstützen. In vielen europäischen Ländern ist dies eine Selbstverständlichkeit. Und in keinem dieser Länder regieren Ultralinke. 

Auf regionaler Ebene wird es die Aufgabe der chilenischen Linken sein, die Schreckgespenster zu vertreiben, die befeuert durch die Diktaturen in Kuba, Venezuela und Nicaragua durch Lateinamerika geistern.  

Dialog und Verständigung sind notwendig

Die Herausforderungen sind vielfältig und komplex. Aber es lohnt sich, mit Mäßigung und Pragmatismus einen ernsthaften Versuch zu wagen. Es ist Zeit den Glauben abzulegen, dass allein die Wahl zwischen Neoliberalismus und Untergang bestehe. 

Eine der Tugenden, die dem Wahlsieger Boric zugeschrieben werden, ist die Fähigkeit zum Dialog und die Suche nach Verständigung. Er wird sie in einem Kongress, in dem sein Lager keine Mehrheit hat, dringend brauchen. Aber die chilenische Rechte muss begreifen, dass auch sie Verantwortung für das Projekt, eines gerechteres Chile zu schaffen - ein Chile, das nicht allein von ungezügeltem Profitstreben angetrieben wird.

Das Land braucht einen neuen Sozialpakt, um auf der Grundlage einer neuen Verfassung, die derzeit ausgearbeitet wird, zuversichtlich in die Zukunft gehen zu können. Die ersten Monate der Regierung Boric werden entscheidend sein für die Schaffung eines Klimas des Vertrauens, das für den Erfolg des verfassungsgebenden Prozesses unerlässlich ist. Damit die Hoffnung weiterhin die Oberhand über Angst und Unsicherheit behält.