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Atempause trotz vieler Infektionen

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Jens Thurau
24. Januar 2022

Deutschland befindet sich in der Pandemie derzeit zwischen Baum und Borke: Die Infektionszahlen sind hoch, trotzdem will die Politik erst einmal keine schärferen Beschränkungen. Das Land wartet ab, meint Jens Thurau.

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Olaf Scholz hält ein Plakat hoch mit der Aufschrift: "Impfen hilft. Auch allen, die Du liebst."
Bund und Länder haben neue Coronamaßnahmen beraten. Bundeskanzler Scholz setzt auf die ImpfpflichtBild: HANNIBAL HANSCHKE/AP/dpa/picture alliance

Deutschland und Corona Ende Januar 2022: Täglich melden die Behörden neue Rekordzahlen bei den Infektionen, schwindelerregend hohe. Kann sich noch jemand daran erinnern, dass eine Inzidenz von 50 oder höher (Anzahl der neuen Ansteckungen innerhalb einer Woche unter 100.000 Einwohnern) als Grenzwert dafür galt, dass es zu Einschränkungen für die Bürger kam? Am Montag meldete das Robert-Koch-Institut eine bundesweite Inzidenz von 840.  

Und dennoch haben die 16 Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten zusammen mit Bundeskanzler Olaf Scholz ebenfalls am Montag beschlossen, die bestehenden Maßnahmen nicht zu verschärfen, aber auch nicht zu lockern. Es bleibt also dabei, dass etwa der Besuch von Restaurants und Bars Genesenen, zweifach Geimpften mit aktuellem Test oder den Dreifach-Geimpften vorbehalten bleibt. Nicht-Geimpfte bleiben außen vor. Die Impfquote steigt, aber mit dem üblichen langsamen Tempo.

Dank Omikron zumeist nur milde Infektionen

Das alles geht zusammen, weil es die hoch-ansteckende, aber in ihrem Verlauf zumeist milde Omikron-Variante des Virus möglich macht. Noch steigt die Zahl der Corona-Patienten in den Krankenhäusern deswegen kaum. Das ist dann eine Art Atempause für die spürbar gestressten Corona-Entscheider in Bund und Ländern. Fragt sich nur, was geschieht, wenn eine neue, diesmal wieder gefährlichere Variante des Virus auftaucht. Das darf im Moment schlicht nicht passieren.  

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DW-Hauptstadtkorrespondent Jens Thurau

Wegen der Atempause gibt es neue Themen rund um die Pandemie: Die sogenannten PCR-Tests, viel genauer als die einfachen Selbsttests, sollen jetzt bestimmten Gruppen wie dem medizinischen Personal und besonders gefährdetem Menschen vorbehalten sein. Nicht zum ersten Mal in der Pandemie redet die deutsche Politik offen über Engpässe bei der Ausstattung im Kampf gegen das Virus. Erst fehlten Masken, dann Impfstoffe, jetzt Laborkapazitäten für die PCR-Tests. Das zeigt, dass die Pandemie, aktuell zum Glück nur mit einer milden Virus-Variante, im Moment nicht mehr kontrolliert werden kann.

Aber die Menschen nehmen solche Nachrichten von der Corona-Front mehr und mehr gleichmütig entgegen. Die neue Impfkampagne der Regierung wirbt nicht ohne Grund unter anderen mit dem Spruch: "Impfen hilft, auch wenn du es nicht mehr hören kannst." Lasst Omikron laufen, richtig durchlaufen, dann haben wir es bald hinter uns, lautet das Motto, lautet die Stimmung in der Gesellschaft. Von Bürgern und Politik. Was Letztere natürlich nie zugeben würde.

Planen für die Zeit nach Omikron

Mit einer Sicherheit, die fast schon wieder skeptisch macht, gehen Politiker und Wissenschaftler davon aus, dass Omikron im Februar, vielleicht im März, geringer werden könnte und das Land mit bald hoffentlich noch mehr Geimpften (derzeit sind es 73,4 Prozent) dann im Herbst gut gerüstet in die nächste Welle geht. Die dann, so die Hoffnung, nur noch als lästige Gewohnheit wahrgenommen wird. Gleich mehrere Politiker fordern offen eine "Lockerungsstrategie" für die nahe Zukunft. Mit vollen Fußballstadien etwa. Wenn denn die Fallzahlen sinken. Ja, wenn.  

Längst plant die Politik für die Zeit nach der Omikron-Variante. Der Expertenrat der Bundesregierung hat etwa am vergangenen Wochenende angemahnt, dass die Datenlage über das Virus in Deutschland nach wie vor zu dünn sei. Auch zwei Jahre nach Beginn der Pandemie bestehe weiterhin kein Zugang zu aktuellen Daten, vor allem zur Lage in den Kliniken. Ein Problem der Digitalisierung, vor allem ein Problem des hohen Stellenwerts des Datenschutzes. Auch das ist nichts Neues: Dass sich das Land mitten in der schwersten Krise seit vielen Jahrzehnten ziemliche Luxusdebatten erlaubt. Aber wie gesagt, momentan sieht es so aus, als hätten wir, die Deutschen, tatsächlich die Chance, einigermaßen heil aus der Pandemie herauszukommen. Trotz vieler Impfunwilliger, trotz einiger hausgemachter Absonderlichkeiten.

Impfpflicht: Erst ausgeschlossen, jetzt kommt sie doch

Die nächste große Auseinandersetzung wird bald die Debatte um eine allgemeine Impfpflicht, die die Regierung will. Aber sie strebt trotzdem eine freie Abstimmung im Bundestag an, weil sie fürchtet, keine eigene Mehrheit aller drei Ampel-Parteien dafür zustande zu bekommen. Vor allem bei den Liberalen von der FDP gibt es viele Pflicht-Gegner. Wie in Deutschland üblich gibt es bereits einige Vorschläge mit verwirrenden Details, wie eine solche Impfpflicht aussehen könnte.

Jetzt rächt sich eben, dass die Politik, allen voran die frühere Bundesregierung, eine Impfpflicht lange nicht einmal diskutieren wollte. Allen Experten ist dabei klar: Gegen Omikron wird die mögliche Impfpflicht nicht mehr helfen, ihr Für und Wider ist eine Frage für die Zukunft, vielleicht für den nächsten Herbst oder Winter. Jetzt, zu Beginn des Jahres 2022, setzt die Politik auf eine Karte: auf ein "Weiter so" und auf die milde Omikron-Variante. Die Chancen, dass sie das Spiel gewinnt, sind gut. Aber sicher ist in dieser Pandemie gar nichts.