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Mehr Selbstmorde in Japan durch Pandemie

Martin Fritz
12. Oktober 2020

Die Zahl der Selbsttötungen in Japan ist im Sommer deutlich angestiegen. Auch in anderen Ländern dürfte die Corona-Pandemie einen solchen Tribut fordern.

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Japan Fujikawaguchiko | Aokigahara-Wald & Selbstmorde
Ein Schuh im Aokigahara-Wald: Schon seit Jahren ist dieser Ort dafür bekannt, dass sich hier Menschen das Leben nehmen Bild: Carl Court/Reuters

In diesem Jahr häuften sich in Japan die Schlagzeilen über Selbstmorde von Prominenten: Erst starb die Wrestlerin und Starbesetzung einer Reality-TV-Serie, Hana Kimura (22), von eigener Hand, dann folgte der TV-Schauspieler Haruma Miura (30). Beide hinterließen einen Abschiedsbrief. Im September töteten sich die Schauspielerinnen Sei Ashina (36) und Yuko Takeuchi (40) selbst. Aber auch generell verzeichnete Japan einen signifikanten Anstieg von Selbstmorden. Nach Jahren mit rückläufigen Gesamtwerten erreichte die Zahl der Selbsttötungen in diesem Juli unerwartet das Niveau desselben Monats im Vorjahr. Im August lag die Zahl mit rund 1850 dann schon 15 Prozent über dem Wert des Vorjahrs.

"Es gibt Anzeichen für einen Aufwärtstrend ab Juli", bestätigte die japanische Regierung und stockte deswegen ihr Jahresbudget für die Prävention von Selbstmorden um 40 Prozent auf 3,7 Milliarden Yen (29 Millionen Euro) auf. Das Geld scheint auch bitter nötig zu sein: Viele private Hotline-Betreiber und Beratungsdienste mussten wegen der Corona-Bekämpfung ihre Angebote verringern oder leiden unter Spendenmangel, obwohl sie nach eigenen Angaben eine erhöhte Zahl von Anrufern und Hilfesuchenden registrieren.

Wirtschaftliche Not

Den Umschwung führen Experten auf die Pandemie zurück. Anfangs habe die Bedrohung durch das Coronavirus die mentalen Abwehrkräfte vieler Menschen gestärkt und das eingeschränkte öffentliche Leben zwischenmenschliche Konflikte verringert. Zwischen Januar und Juni sank die Zahl der Selbstmorde um rund zehn Prozent. Aber inzwischen belasteten die sozialen und wirtschaftlichen Pandemiefolgen die psychische Gesundheit vieler Japaner. Die Arbeitslosenquote ist von 2,4 Prozent im Februar auf 3,0 Prozent im August gestiegen. Knapp 2,1 Millionen Japaner sind arbeitslos gemeldet. Zahlreiche kleine Betriebe und Läden mussten mangels Einnahmen schließen. Viele Inhaber bleiben auf einem Schuldenberg sitzen. "Es kamen keine Kunden in meine Gaststätte, obwohl ich so hart für die Eröffnung gearbeitet habe", klagte eine verzweifelte Frau der Hilfsorganisation Befrienders Osaka.

In einem Einkaufszentrum der westjapanischen Stadt Kyodo schützen sich Menschen beim Einkaufen mit Masken vor Covid-19
In der Corona-Krise haben viele Japaner und vor allem Japanerinnen den Job verloren - manche sehen keinen Ausweg mehrBild: picture-alliance/Kyodo

Der Anstieg der Selbstmorde fällt in Japan besonders auf, da die Pandemie bisher relativ wenige Opfer gefordert hat. Rund 1600 COVID-19-Toten stehen aktuell mehr als 13.000 Tote durch Selbstmord gegenüber. Besonders laut schrillen die Alarmglocken wegen der Zunahme von Selbstmörderinnen. Im August stieg ihre Zahl um 40 Prozent zum Vorjahr auf 651, wobei ein Schwerpunkt auf Frauen zwischen 20 und 40 lag. Der Gesundheitsexperte Masaharu Maeda von der Universität Fukushima sieht hier ökonomische Gründe am Werk: Der Abschwung durch die Pandemie betreffe Frauen stärker, da sie weitaus häufiger befristet und in Teilzeit arbeiteten, und ihre Stellen am schnellsten gestrichen würden, meint Maeda.

Kinder unter Druck

Ebenfalls auffällig betroffen sind Minderjährige, bei denen Selbsttötungen ohnehin als einzige Altersgruppe seit Jahren zunehmen. Im August töteten sich 59 Grund-, Mittel- und Oberschüler, fast doppelt so viele wie im gleichen Zeitraum des Vorjahres. Als mögliche Gründe gelten die Zunahme von Mobbing bei der Wiederaufnahme des Präsenzunterrichts ab Juni sowie der starke Lerndruck, den versäumten Unterrichtsstoff in kurzer Zeit aufzuholen. Dadurch droht die Zahl der Schulverweigerer zuzunehmen. "Wir haben von Fünfjährigen gehört, die vom Sterben und Verschwinden reden", berichtete Hiroyuki Nishino, Leiter der Kinderhilfe "Tamariba", der Nachrichtenagentur Bloomberg.

In Thailand gibt es nun eine Selbstmord-Hilfestelle. Unyakarn Boorprasert unterstützt deren Arbeit
Unyakarn Boorprasert aus Thailand überlebte ihren Selbstmordversuch in Zeiten von Covid-19. Bild: Reuters/A. Perawongmetha

Japan gehört zu den wenigen Ländern weltweit, die Selbstmorde zeitnah erfassen und die Statistik schnell veröffentlichen. Doch Berichte deuten darauf hin, dass es infolge der Pandemie auch in anderen Nationen zu mehr Selbsttötungen kommt. So stieg in Südkorea die Zahl der Selbstmörderinnen im Frühjahr ebenfalls signifikant an. Eine US-Studie sagte im Mai 75.000 zusätzliche "Verzweiflungstote" in den nächsten zehn Jahren vorher, ein zusammenfassender Ausdruck für Tod durch Selbstmord und Drogenmissbrauch. Nach Angaben der indischen Suicide Prevention Foundation berichteten zwei Drittel der Therapeuten von mehr Selbstverletzungen und Selbsttötungsversuchen.

Laut einer Umfrage der Weltgesundheitsorganisation WHO hat die Versorgung der psychischen Gesundheit in mehr als 60 Prozent von 130 Ländern unter der Pandemie gelitten. In Japan kommt die traditionelle Vernachlässigung dieses Bereichs dazu. "Staatliche Finanzhilfe ist wichtig, aber genauso muss man erst einmal akzeptieren, dass auch die psychische Gesundheit ein Pfeiler der staatlichen Gesundheitspolitik sein sollte", betonte der Chefvolkswirt der Asiatischen Entwicklungsbank und Experte für die ökonomischen Folgen von Selbstmorden, Yasuyuki Sawada, in einem Bloomberg-Interview.

Die Deutsche Welle berichtet zurückhaltend über das Thema Suizid, da es Hinweise darauf gibt, dass manche Formen der Berichterstattung zu Nachahmungsreaktionen führen können. Sollten Sie selbst Selbstmordgedanken hegen oder in einer emotionalen Notlage stecken, zögern Sie nicht, Hilfe zu suchen. Wo es Hilfe in Ihrem Land gibt, finden Sie unter der Website https://www.befrienders.org/. In Deutschland hilft Ihnen die Telefonseelsorge unter den kostenfreien Nummern 0800/111 0 111 und 0800/111 0 222.