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Mörder löst uraltes Matheproblem

17. Juni 2020

Ein verurteilter Mörder bringt sich selbst im US-Gefängnis die Grundlagen der höheren Mathematik bei, löst ein kompliziertes Rechenproblem und begeistert auch seine Mithäftlinge für die Mathematik.

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Justizvollzugsanstalt Salzburg Puch-Urstein
Bild: picture-alliance/VOGL-PERSPEKTIVE.AT/M. Vogl

Hätte sich Hollywood diese Geschichte ausgedacht, würde man denken: 'Naja, ziemlich unglaubwürdig. Kitschig. Alles ein bisschen zu dick aufgetragen.' Aber die besten Geschichten schreibt bekanntlich das Leben.

Das Leben aber meinte es lange nicht wirklich gut mit Christopher Havens aus den USA. Der 40-jährige sitzt seit neun Jahren wegen Mordes in der Nähe von Seattle im Gefängnis. Havens hatte die Schule abgebrochen, kam auf die schiefe Bahn, fand keinen Job, wurde drogenabhängig. Nach einem Mord wurde er zu 25 Jahren Gefängnis verurteilt, davon muss er noch 16 Jahre absitzen.

Im Gefängnis aber änderte sich sein Leben, als Havens seine Leidenschaft für die Mathematik entdeckte. Die Grundlagen der höheren Mathematik brachte er sich selber bei, was gar nicht so leicht war, weil die Gefängnisaufseher die bestellten Mathematikbücher in der Post abfingen. An die Lehrbücher kam Havens erst, nachdem er sich bereit erklärt hatte, auch anderen Mitgefangenen Mathematik-Unterricht zu geben.

Brief des Mörders Christopher Havens
"Numbers have become my mission"- Diesen handgeschriebenen Brief schrieb Havens an einen mathematischen Verlag Bild: theconversation.com

Nach einer Weile reichten Havens die Grundlagen der höheren Mathematik nicht mehr und so wandte er sich mit einem kurzen, handgeschriebenen Brief an einen mathematischen Verlag und bat um einige Ausgaben der "Annals of Mathematics", einer renommierten Fachzeitschrift für Mathematik. 

Mathematik als Misson

Zahlen seien zu seiner "Mission" geworden. Er habe beschlossen, diese Zeit im Gefängnis zur 'Selbstverbesserung' zu nutzen. Er habe aber niemanden, mit dem er sich über die komplexen mathematischen Themen austauschen könnte.

Ein Redakteur von Mathematica Science Publisher schickte den Brief per Mail an seine Partnerin Marta Cerruti, die ihn an ihren Vater, den Mathematikprofessor Umberto Cerruti aus Turin weiterleitete. 

Nur ihr zuliebe habe der skeptische Professor aus Turin dem Häftling aus Seattle tatsächlich geantwortet und ihm zunächst eine Aufgabe gestellt, um dessen tatsächliche Fähigkeiten zu testen. So schildert die Wissenschaftlerin Marta Cerruti die ungewöhnliche Geschichte von Christopher Havens in einem Beitrag für das Portal "The Conversation". 

Nach einiger Zeit erhielt der Turiner Professor die Antwort per Post. Ein 120 Zentimeter langes Stück Papier mit einer ellenlangen Formel. Cerruti musste erst einmal mit dem Computer überprüfen, was der Häftling ihm da geschickt hatte. Und tatsächlich: Havens hatte die Aufgaben korrekt gelöst.

Daraufhin lud der Turiner Mathematik-Professor Havens ein, ihm bei einem uralten Mathe-Problem zu helfen, an dem Cerruti sich selber schon lange versuchte. 

Viel braucht es nicht

Nur mit einem Stift und Papier knobelte der Häftling Havens eine Weile an dem Problem aus der Zahlentheorie, den sogenannten Kettenbrüchen, über die sich bereits der antike griechische Mathematiker Euklid den Kopf zerbrochen hatte. 

Ein Kettenbruch ist - vereinfacht ausgedrückt - ein gemischter Bruch, bei dem der Nenner wieder die Form eines gemischten Bruchs besitzt, wobei sich dieser Aufbau so weiter in Richtung Unendlichkeit fortsetzt. Die Brüche sind so miteinander verkettet. Kettenbrüche dienen aber nicht zum Rechnen, sondern werden dazu verwendet, Approximationsaufgaben zu lösen, mit denen man sich bei komplexen Rechnungen einem Ergebnis annähert.

Mathematische Kettenbrüche auf einem Blatt Papier
So sehen typische Kettenbrüche aus, mit denen man sich bei komplexen Rechnungen einem Ergebnis annähern kann Bild: DW/A. Freund

Eingesetzt wird diese Zahlentheorie etwa in der modernen Kryptographie, die heute im Bank- und Finanzwesen und in der militärischen Kommunikation von entscheidender Bedeutung ist. 

Havens knackte tatsächlich das uralte Mathe-Rätsel und fand zum ersten Mal einige Regelmäßigkeiten bei der Annäherung einer großen Klasse von Zahlen.

Cerruti half Havens, den Beweis wissenschaftlich korrekt auszuformulieren und wenige Monate später, im Januar 2020, veröffentlichten die beiden den Beweis im Journal Research in Number Theory.

So weit, so schön die Geschichte. Aber der Häftling Havens hat nicht nur ein uraltes Rätsel der Mathematik geknackt, er hat durch seine Leidenschaft auch eine Gruppe Mitgefangener für die Welt der Zahlen begeistern können. Mittlerweile hat sich in dem Gefängnis ein regelrechter Mathekreis entwickelt. 

Begeisterung geweckt

Passenderweise feiert Havens mit den 14 Mitgefangenen jedes Jahr den 14.3. als "Pi-Tag", angelehnt an die Kreiszahl Pi 3,14…….

An einer dieser ungewöhnlichen Feiern konnte auch der Turiner Professor unter strengsten Sicherheitsvorkehrungen teilnehmen.  Beeindruckt zeigte sich Umberto Cerruti auch von einem Häftling, der die ersten 461 Nachkommastellen von Pi auswendig aufsagte, schreibt Cerruti unter demTitel "Pi Day Behind Bars - Doing Mathematics in Prison" in der Zeitschrift Math Horizons.

Häftling Havens will sich in den 16 noch verbleibenden Jahren im Gefängnis mit weiteren mathematischen Themen beschäftigen. Die Wissenschaft sei ein Weg, seine "Schuld gegenüber der Gesellschaft" zu bezahlen, so fasst Marta Cerruti die Gespräche mit Havens zusammen. Nach seiner Haftzeit wolle Havens dann auch ganz offiziell Mathematik studieren.

Vielleicht wurde seine ungewöhnliche Lebensgeschichte bis dahin auch von Hollywood verfilmt. Die besten Geschichten schreibt ja bekanntlich das Leben. 

DW Mitarbeiterportrait | Alexander Freund
Alexander Freund Wissenschaftsredakteur mit Fokus auf Archäologie, Geschichte und Gesundheit@AlexxxFreund