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Transkript: 51. Was ist die Lebenshilfe?

11. August 2022

Für Menschen, die unseren Podcast nicht hören können, stellen wir hier ein Transkript zur Verfügung: "Lebenshilfe für das geistig behinderte Kind" hieß der Verein, der 1958 vom Niederländer Tom Mutters gegründet wurde.

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Zum Podcast geht es hier.

Jingle: DW. "Echt behindert!"

Moderator, Matthias Klaus: Herzlich willkommen zu "Echt behindert!" Mein Name ist Matthias Klaus.

Als die Lebenshilfe im Jahr 1958 in Marburg gegründet wurde, war wohl nicht klar, dass sie eine der größten Organisationen werden würde, die Angebote für Menschen mit Einschränkungen machen. Damals war es eher so eine Art kleiner Elternverein. Heute gibt es Vereine der Lebenshilfe in zahlreichen deutschen Städten. Sie betreiben Tageseinrichtungen, Wohnstätten, Werkstätten für behinderte Menschen und bieten Beratungs- und Freizeitangebote. Außerdem sind sie natürlich politisch aktiv.

Mit mir im Podcast ist Professor Dr. Jeanne Nicklas-Faust. Sie ist Geschäftsführerin der Bundesvereinigung Lebenshilfe. Und Ramona Günther, sie ist eine von drei Vertretern behinderter Menschen im Bundesvorstand der Bundesvereinigung Lebenshilfe.

Schönen guten Tag zusammen.

Ramona Günther: Hallo!

Jeanne Nicklas-Faust: Guten Tag!

Matthias Klaus: Frau Günther! Vielleicht erst mal an Sie die Frage: Dass behinderte Menschen im Vorstand der Bundesvereinigung Lebenshilfe sind, war ja bestimmt nicht immer so! Wie sind Sie in diesen Vorstand gekommen?

Ramona Günther: Durch einen anderen Kollegen. Der kam aus Pforzheim, und der hat mich mitgenommen zum Rat. Also ich bin auch noch im Rat drin, im Rat für behinderte Menschen. Und dann haben sie gesagt, sie würden mich behalten. Ich könnte gut reden und mich äußern, was ja sehr wichtig ist für uns Menschen. Und dann, weil wir mit dem Bundesvorstand zusammenarbeiten, haben wir immer gewählt. Und dann habe ich die meisten Stimmen gehabt und bin in den Bundesvorstand gewählt worden. Und inzwischen sind wir drei Menschen mit Behinderung, was ich sehr gut finde.

Matthias Klaus: Leben oder arbeiten Sie in einer Einrichtung der Lebenshilfe oder wie kommen Sie überhaupt darauf, sich aufzustellen?

Ramona Günther: Ich lebe in der Lebenshilfe, in einer WG. Wir sind zwei Frauen und zwei Männer.

Matthias Klaus: In welcher Stadt ist das?

Ramona Günther: Freudenstadt im Schwarzwald, Baden-Württemberg.

Matthias Klaus: Arbeiten Sie auch in der Einrichtung der Lebenshilfe in einer Werkstatt oder arbeiten Sie irgendwo anders?

Ramona Günther: Ich bin auch in einer Werkstatt. Nächstes Jahr werden es 35 Jahre. Ja, ich arbeite, wo Lebenshilfe Gesellschafter ist, wir haben zwei Lebenshilfen, die drin sind. Die sind beide Gesellschafter, was unsere Werkstatt betrifft.

Matthias Klaus: Ich frage Sie gleich auch noch, was Sie dort im Bundesvorstand einbringen, wie Sie Ihre Interessen da wahrnehmen. Aber jetzt vielleicht erstmal zu Frau Dr. Nicklas Faust und ein bisschen in die Geschichte der Lebenshilfe. Ich habe es eben in der Anmoderation gesagt: '1958 gegründet'. Wie war das damals? Warum war das nötig, überhaupt so etwas zu gründen?

Jeanne Nicklas-Faust: Na ja, es war deshalb nötig, weil ja Eltern, Familien, die ein Kind mit einer sogenannten geistigen Behinderung bekommen haben, keine Möglichkeiten vor Ort hatten, dass ihre Kinder betreut oder gefördert wurden. Es gab zu diesem Zeitpunkt nur die Groß- und Komplexeinrichtungen und Eltern wollten aber gerne vor Ort etwas für ihre Kinder haben. Und das traf zusammen mit unserem Gründer, Tom Mutters, einem Niederländer, der tatsächlich gerne eine nationale Bewegung gründen wollte nach der NS-Zeit, in der Menschen mit Behinderung ja getötet wurden, ermordet wurden, aber auch für medizinische Versuche missbraucht wurden. Und er hat gesagt: "Wir brauchen eine nationale Bewegung, die dem etwas entgegensetzt." Und deswegen ist auch die Bundesvereinigung als erster Verein gegründet worden, nicht ein lokaler Verein. Und es waren eben Eltern behinderter Kinder, die gemeinsam mit Tom Mutters und mit einigen Fachleuten die Gründung vorgenommen haben. Und er ist dann von Stadt zu Stadt gefahren, hat dort Eltern zusammengebracht, die dann die Gründung in die Hand genommen haben. Und insofern ist dieser Selbsthilfegedanke für uns von Anfang an wichtig, der Sozialraumbezug. Da, wo man lebt, möchte man Unterstützung haben.

Und tatsächlich ist es im Grunde im zweiten Schritt passiert, dass die Eltern dann die Ärmel hochgekrempelt haben und nachdem sie zunächst im Wohnzimmer Kinderbetreuung organisiert haben, später dann auch professionelle Dienste angeboten haben, zum Beispiel Kitas und Schulen. Die Einführung der Schulpflicht in der damaligen Bundesrepublik ging wesentlich auf die Lebenshilfe zurück. Solche Dinge kamen im Grunde in einem zweiten Schritt, dann eben auch tatsächlich selbst Angebote zu machen.

Matthias Klaus: Wie war das vorher? "Geistig behinderte Kinder" - wie es ja damals hieß - mussten nicht zur Schule oder durften nicht zur Schule.

Jeanne Nicklas-Faust: Genau. Es gab keine Schulpflicht. Sie galten nicht als bildbar, nicht als bildungsfähig. Sie waren dann unter Umständen, wenn sie in einer Groß- und Komplexeinrichtung waren, in einer Betreuungseinrichtung, in der sie dann auch Dinge gelernt haben. Aber der eigentlichen Schulpflicht waren sie nicht unterworfen.

Matthias Klaus: Kurz mal zwischendurch gefragt: Sie sind Geschäftsführerin des Bundesverbandes Lebenshilfe. Wie kommen Sie dazu, das zu machen? Welches Interesse haben Sie daran?

Jeanne Nicklas-Faust: Na ja, ich bin ganz klassisch dazugekommen. Unsere zweite Tochter ist mit einer schweren geistigen Behinderung geboren worden. Als das klar wurde, habe ich gedacht, dann musst du dich dafür engagieren, dass die Welt für sie gut passt. Ich bin bei der örtlichen Lebenshilfe gewesen und bin nach fünf Jahren in den Bundesvorstand gewählt worden, 2000. Mit mir gemeinsam ist der erste Mann mit Behinderung in den Bundesvorstand gewählt worden und der Rat behinderter Menschen auf Bundesebene gegründet worden. Ich war dann elf Jahre lang im Bundesvorstand, zum Schluss als stellvertretende Vorsitzende, bevor ich dann die Seiten gewechselt habe und Geschäftsführerin geworden bin.

Matthias Klaus: Kommen wir zurück zur Geschichte der Lebenshilfe. Das erste, an was ich mich erinnere, ist, glaube ich, dass ich neunzehnhundert, sagen wir mal, es war 74, mit meinen Eltern als 10-jähriger auf dem Sofa saß und im Fernsehen kam eine Serie "Unser Walter". Da hieß es dann später: Das hat irgendwas mit der Lebenshilfe zu tun. Und da war es so, dass Behinderung im Fernsehen eigentlich bis dahin überhaupt nicht vorkam. Das war einem peinlich, unangenehm, man wollte damit nichts zu tun haben. Aber auf einmal gab es eine Serie, wo ein Jugendlicher, soweit ich mich erinnere, mit Downsyndrom, gezeigt wurde. Das hatte auch mit der Lebenshilfe zu tun, soweit ich weiß.

Frau Dr. Jeanne Nicklas-Faust: Ja, ich kann Ihnen jetzt nicht ganz genau die Zusammenhänge sagen, aber tatsächlich war es Tom Mutters von Anfang an extrem wichtig, dass das Bild von Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung in der Gesellschaft ein anderes wird. Und dazu gehörten für ihn ganz klar auch Aufklärung und Öffentlichkeitsarbeit. Er hat auch die "Aktion Mensch" damals "Aktion Sorgenkind" mitgegründet, die ja eben beide Stränge hat. Auf der einen Seite die Aufklärung darüber, wie Menschen mit Behinderung damals in Deutschland gelebt haben und auf der anderen Seite eben tatsächlich die Soziallotterie, die konkrete Vorhaben fördert. Später gab es in der [Serie] "Lindenstraße" auch noch mal ein Baby mit Downsyndrom, und so war es an vielen Stellen eben der Impuls zu sagen: Wir müssen Menschen mit Behinderung einfach in anderen Konstellationen zeigen, damit mehr über sie verstanden wird und nicht nur die Eltern, die Familie und die Freunde wissen, wie es geht.

Matthias Klaus: Die Lebenshilfe hat Einrichtungen und Angebote gegründet und initiiert. Wie ist das dann gewachsen? In den Siebziger und Achtziger Jahren waren es ja doch sehr viele Mitglieder, sehr viele Vereine. Daran sieht man ja, dass ein Bedarf dafür da war. Wie groß wurde das mit der Zeit?

Jeanne Nicklas-Faust: Na ja, also tatsächlich ist es so, dass schon in den ersten Jahren recht viele Vereine gegründet wurden. Aber tatsächlich war so die Hoch-Zeit die, in der es etwa 135.000 Mitglieder in der Lebenshilfe gab. Man kann sagen, dass es in Deutschland 400.000 bis 500.000 Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung gibt. Heutzutage ist die Lebenserwartung ja auch bei Menschen mit geistiger Behinderung höher als sie früher war. Und insofern gab es da tatsächlich deutlich über 500, an die 540, Orts- und Kreisvereinigungen, in denen sich Eltern zusammengeschlossen haben.

Der positive Effekt war, dass es eben wirklich vor Ort war, dass es häufig kleinere Einheiten waren. Ein "Ausschuss Wohnen" hat sich schon Ende der Sechziger-, Anfang der Siebzigerjahre damit befasst, dass Menschen - wie wir an anderer Stelle häufig sagen - mit Lernschwierigkeiten eben da leben, wo andere auch leben. Also tatsächlich auch in ganz normalen Wohngebieten. Dass sie sexuelle Bedürfnisse haben, dass sie das Bedürfnis nach Privatheit haben. Also tatsächlich ganz moderne Gedanken, die dann von jeder Lebenshilfe unterschiedlich umgesetzt wurden. Wir wünschen uns inzwischen, dass es eben noch kleiner, noch weniger geballt ist. So wie zum Beispiel jetzt die Wohngruppe von Ramona Günther mit vier Menschen mit Behinderung oder auch im ambulant unterstützten Wohnen, was etwa 40 Prozent der Menschen, die bei der Lebenshilfe wohnen, auch nutzen.

Matthias Klaus: Frau Günther, vielleicht können Sie ein bisschen aus Ihrer Wohngruppe erzählen. Die wird betrieben von der Lebenshilfe oder kommt einfach ab und zu mal jemand vorbei und hilft Ihnen ein bisschen?

Ramona Günther: Nee, die läuft über die Lebenshilfe. Es ist jetzt direkt das Lebenshilfe-Haus, wo ich wohne. Unten sind die offenen Hilfen, ein Stockwerk höher, das ist für Veranstaltungen. Dort können Leute – wenn wir etwas machen wie Ausflüge oder Freizeiten - übernachten. Und die WG ist im zweiten Stock, und im dritten Stock haben wir noch eine Kita, Menschen mit und ohne Behinderung.

Matthias Klaus: Bei was werden Sie denn in dieser WG unterstützt?

Ramona Günther: Ich gehe arbeiten und die anderen auch. Wir alle vier gehen arbeiten und so ab halb fünf, fünf [Uhr] ist dann immer jemand da.

Matthias Klaus: Und was machen Sie dann?

Ramona Günther: Essen oder einkaufen gehen oder Papiere, wenn man was erledigen muss, zur Bank und so etwas.

Matthias Klaus: Das heißt, Ihnen fehlt am Ende auch mehr leichte Sprache als es im Moment wirklich gibt.

Ramona Günther: Ja, ja, genau. Und da lob ich mir die Bundesvereinigung Lebenshilfe, wo ich reingekommen bin. Das kann Frau Nicklas bestätigen. Ich habe gleich darauf bestanden, dass wenn ich mitkommen soll, dann muss es leichte Sprache geben. Das ist in den Unterlagen immer vorgegeben. Und dann immer bevor der nächste Top [der nächste Punkt] kommt, ist so ein buntes Papier drin, sodass ich zurechtkomme mit meiner Unterstützerin hier vor Ort und dass wir [alles] sauber abheften können. Denn, wenn ich nach Berlin reise oder Marburg oder woanders hin, da muss man ja zurechtkommen und nicht jedes Mal dazwischengehen und sagen: "Halt, stopp, ich habe keine Ahnung." Also das muss irgendwie laufen. Da hat die Bundesvereinigung echt gut mit mir zusammengearbeitet. Ich bin echt zufrieden.

Jeanne Nicklas-Faust: Ich schreibe ja viele Vorstandsvorlagen.

Ramona Günther: Ja.

Jeanne Nicklas-Faust: Hier ist es so, dass ich erst den Text in leichter Sprache schreibe, und da ist vollkommen klar, wo der Hase läuft, wohin die Reise geht. Und dann schreibe ich den Text in komplizierter Sprache mit etwas mehr Details. Und ich finde tatsächlich, alles andere ginge nicht. Also wir können nicht Menschen mit Lernschwierigkeiten im Vorstand haben und ihnen die Chance nehmen, dass sie alleine in der Sitzung zurechtkommen. Meistens kommt Ramona ohne Assistenz zur Sitzung, weil sie das gut kann. Und dann muss sie natürlich auch mit ihren Unterlagen zurechtkommen.

Ramona Günther: Ja, aber vor Ort hat man ja dann auch noch eine Unterstützerin, wenn es doch mal klemmt.

Matthias Klaus: Zurück zu dieser Vereinsstruktur. Sie haben ja eine Bundesvereinigung, die ja die erste war. Und dann gibt es die einzelnen Lebenshilfen. Wir in Bonn haben ja hier auch eine. Wie unabhängig ist denn so ein einzelner Verein? Gibt es sehr viele Regeln, die die Bundesvereinigung vorgibt oder funktioniert es eher andersrum, dass die Bundesvereinigung das macht, was die einzelnen Vereine wollen?

Jeanne Nicklas-Faust: Naja, also wenn man das humorvoll beschreiben möchte, ist unser Wahlspruch: "Es ist normal, verschieden zu sein." Und das gilt auch für unsere Vereine. Die Vereine sind extrem unterschiedlich, sie sind rechtlich eigenständig. Das heißt, als Bundesvereinigung überzeugen wir mit guten Ideen, mit guten Konzepten, mit guter Beratung. Aber wir können unseren Mitgliedern eigentlich nichts vorschreiben und keine Regeln machen. Das, was wir tatsächlich als Grundvoraussetzung haben, ist, dass unsere Mitglieder das Grundsatzprogramm akzeptieren. Wir hatten 1990 das erste gemeinsame Grundsatzprogramm in ganz Deutschland nach der Vereinigung. Da standen dann auch schon so Sachen drin, dass es eine UN-Konvention braucht für die Rechte von Menschen mit Beeinträchtigungen.

Wir haben dann 2011 ein neues Grundsatzprogramm gemacht. Das machen wir natürlich mit unseren Mitgliedern gemeinsam. Aber 2011 war schon klar, wir machen jetzt keines in schwerer Sprache oder in schwerer Sprache mit Übersetzung in leichte Sprache, sondern wir machen tatsächlich eines mit einfacher Sprache und vielen Bildern, dass es von allen Mitgliedern gleichermaßen verstanden wird.

Matthias Klaus: Die einzelnen Vereine können letzten Endes schon relativ autonom agieren. Es geht ja auch oft um Begrifflichkeiten. Mal heißt es "Menschen mit Behinderung", mal "behinderte Menschen", mal "geistige Behinderung", mal "Lernschwäche". Da machen Sie nicht so viele Vorgaben, dass jeder Verein sich unbedingt an so eine Art Corporate Identity halten muss.

Frau Dr. Jeanne Nicklas-Faust: Nein, wir haben natürlich so etwas wie eine Corporate Identity. Aber gerade bei der Begrifflichkeit nutzen wir verschiedene und haben da für uns auch noch keine gute Lösung gefunden. 2012 gab es eben auch die Frage, wie wir auf Bundesebene zukünftig heißen sollen. Wir hießen früher "Bundesvereinigung Lebenshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung". Sollen wir dann "Bundesvereinigung Lebenshilfe für Menschen mit Behinderung" heißen oder einfach nur "Bundesvereinigung Lebenshilfe"? Und es gab dann ein klares Plädoyer von den Selbstvertreterinnen und Selbstvertretern auf der Mitgliederversammlung. Vorher war die Verteilung ungefähr 1/3, 1/3, 1/3, aber die Selbstvertreterinnen haben mit großer Kraft in der Diskussion ein eindeutiges Votum. Es wurde dann mit über 80 Prozent eindeutig entschieden: Wir verzichten auf alles drumherum, wir sind nur noch die "Bundesvereinigung Lebenshilfe". Und viele Vereine sind diesen Weg mitgegangen und haben selbst auch eben die Formulierung "geistige Behinderung" weggelassen. Aber manche heißen nach wie vor "geistige Behinderung". Es gibt sogar noch welche, die heißen "für das geistig behinderte Kind". So haben wir nämlich mal angefangen. Wir hießen mal "Bundesvereinigung für das geistig behinderte Kind". Das macht tatsächlich jede Lebenshilfe fast wie sie möchte. Und wir versuchen eben trotzdem klar zu machen: Das ist unsere gemeinsame Linie und [wir] haben viele, viele Diskussionen im Gesamtverband darüber, wie wir gut einen gemeinsamen Weg gehen können.

Matthias Klaus: Es gibt ja auch kontroverse Debatten, wenn ich bedenke, dass es Werkstätten für behinderte Menschen gibt, die Sie ja auch teilweise betreiben, wenn ich das richtig sehe. Und gleichzeitig wird immer wieder kritisiert, dass die Menschen dort zu wenig Geld verdienen oder im Prinzip eher gar nichts richtig verdienen. Und dass sie auch auf den ersten Arbeitsmarkt nicht kommen können, dadurch, dass die Strukturen so sind, wie sie sind. Wie gehen Sie denn mit diesen teilweise doch sehr kritischen Vorwürfen um, wenn Sie selber zum einen ja immer auf der Höhe der behinderten politischen Zeit sind, gleichzeitig aber eben solche Einrichtungen betreiben?

Jeanne Nicklas-Faust: Na ja, es geht für uns nichts ohne Diskussionen. Wir diskutieren jetzt gerade in einem verbandsweiten Prozess eben genau dies: unsere Positionierung zur Frage des Entgelts in Werkstätten, und wie sieht die Teilhabe am Arbeitsleben in Zukunft aus? Wir haben ganz klare Ideen dazu, wie wichtig es ist, dass Menschen auch mit sogenannter geistiger Behinderung die Möglichkeit haben, auf dem ersten Arbeitsmarkt zu arbeiten und entsprechend Entgelt zu bekommen. Unser "Rat behinderter Menschen" hat sich deutlich positioniert. Das darf Ramona gleich dazu sagen. Und wir diskutieren jetzt, bis wir irgendwann in diesem Spannungsfeld eine Einigung haben, mit der in gewisser Weise alle leben können. Aber für uns ist ganz klar, dass ein "einfach weiter so, und die Werkstätten machen eine tolle Arbeit und da braucht sich nichts ändern", da auch nicht funktioniert. Aber so ist es auch. Es ist tatsächlich auch in den Werkstätten oder bei den Werkstattvertretern, die mitdiskutieren, bei den allermeisten klar, dass sich etwas ändern muss, weil das System "Werkstatt", so wie es jetzt ausgebaut ist, nicht zukunftsfähig ist. Es braucht da eine Veränderung. Das liegt auch daran, dass Menschen jetzt eben inklusiv in die Schule gehen und wenn sie aus einer inklusiven Schule kommen, auch andere Vorstellungen vom Leben und Arbeiten haben. Und von daher versuchen wir an dieser Stelle eben den Prozess mit voranzutreiben, auch innerhalb unseres Vereins.

Matthias Klaus: Frau Günther, erzählen Sie: Welche Position hat der "Rat behinderter Menschen" zum Thema "Zukunft der Werkstätten"?

Ramona Günther: Ja, da gibt's Diskussionen. Ich bin da auch in der Werkstatt und auch im Werkstatt-Rat drin, wo die Interessen von Menschen mit Behinderung vertreten werden. Und wo ich dann das erste Mal gehört habe, dass Werkstätten abgeschafft werden sollen, da habe ich gesagt: Nein, auf gar keinen Fall, weil wir unterschiedliche Menschen mit Behinderung haben und die würden dann nur zu Hause sein. Das geht nicht. Und früher hat es auch keinen gejuckt. Da waren sie froh, dass wir Arbeit haben. Was ist das jetzt hier, dass, wenn die Leute von der Schule kommen, machen die hier den Berufsbildungsbereich für zwei Jahre durch, und dann, wenn sie sagen: Nee, ich möchte nicht in der Werkstatt bleiben, ich möchte draußen irgendwas arbeiten, dann ist die Werkstatt angehalten, mit den Leuten zu gucken, dass es klappt. Und wenn nicht, dann können sie auch wieder zurückkommen, denn du kannst nicht sagen, du machst die Werkstätten dicht! Da sind so viele, die eine größere Behinderung haben oder vieles draußen nicht so können. Die würden untergehen. Und in der Werkstatt, da ist das doch wie bei der Lebenshilfe, auch so familiär. Man hat den Leuten 'was beigebracht. Sie dürfen an Maschinen arbeiten, wenn sie mit einer Vorrichtung eingestellt sind. Also ich habe auch gesagt, ich geh nicht raus. Du brauchst auch fitte in der Werkstatt, denn sonst machen wir ja wieder Unterschiede, dass wir aussortieren. Wir wollen von dem Schubladensystem wegkommen.

Jeanne Nicklas-Faust: Der "Rat behinderter Menschen" hat sich bezogen auf das Entgelt, mit dem Basisgeld ganz klar auch den "Werkstatträten Deutschland" angeschlossen. Das ist eine ganz klare Auffassung vom "Rat behinderter Menschen“, und tatsächlich gibt es bei den Menschen mit Beeinträchtigung eine Menge, die weiterhin auf die Werkstatt setzen und für sich die Werkstatt als den richtigen Ort finden. Ich weiß, als die Diskussion angefangen hat, habe ich irgendwann mal Ramona auch gefragt: 'Kannst du dir denn vorstellen, aus der Werkstatt rauszugehen?' Und dann hat sie gesagt: 'In meinem Alter kann ich es mir jetzt auch nicht mehr vorstellen.' Aber wir haben eben zum Beispiel eine Lebenshilfe, die fragt die Schulabgänger - und es ist in einer bayerischen Stadt, das heißt, es sind fast alle Förderschulabgänger -, ob sie denn in der Werkstatt arbeiten wollen oder nicht in der Werkstatt arbeiten wollen. Und da ist die Antwort halbe, halbe. Und ich finde, das ist etwas, was eben auch klar ist, dass wir mit dem Budget für Arbeit erste Schritte für einen flexiblen sozialen Arbeitsmarkt gegangen sind, die leider bisher noch nicht so erfolgreich waren. Da muss dringend mehr passieren und das wird sich auch in unserer Positionierung widerspiegeln.

Matthias Klaus: Das ist einer der Punkte, wo die Lebenshilfe selber die aktuelle Entwicklung mitgestaltet. Es gab ja vor ein paar Jahren, 2017, einen relativen Skandal mit RTL und einem Wohnheim der Lebenshilfe. Damals wurden Zustände angeprangert. Es ging im Wesentlichen um Menschen, die dort gearbeitet haben. Hat der Bundesverband zu solchen Dingen, wenn ein einzelner Verein etwas macht, etwas zu sagen? Ich habe damals zum Beispiel oder als ich das neulich nachgelesen habe, in der Zeitung gelesen, dass dann andere Ortsvereine oder andere Vereine der Lebenshilfe gesagt haben: "Das war nicht bei uns, bei uns gibt es so etwas nicht. Da müssen die mit klarkommen." Frau Nicklas-Faust, wie stehen Sie zu solchen kritischen Dingen: Wohnheimskandale mit Gewalt in Heimen, auch in Einrichtungen der Lebenshilfe?

Jeanne Nicklas-Faust: Ich glaube tatsächlich, dass geschlossene Systeme immer gefährlicher sind als offene Systeme. Und je größer Systeme sind, umso eher kann es auch zu geschlossenen Bereichen kommen. Wir haben das ja auch in der Coronazeit gesehen, dass Gewalt mehr geworden ist. Und ich muss sagen, diese Berichterstattung war damals für mich ein absoluter Schock, weil ich es mir tatsächlich nicht hätte vorstellen können, dass so etwas passiert. Die allermeisten Lebenshilfen haben es zum Anlass genommen, bei sich selber zu schauen und tatsächlich zu überlegen, ob sie genügend Gewaltprävention machen. Und das ist tatsächlich die Reaktion, die ich angemessen finde. Ich weiß, es gibt Lebenshilfen, die gesagt haben: "Das hätte bei uns nicht passieren können." Das halte ich für eine gefährliche Form darauf zu reagieren. Wir alle wissen, dass es immer Gewalt in Pflegebeziehungen, in Betreuungssituationen, in Unterstützungssituationen gibt. Das heißt, was wir gemacht haben - wir hatten es schon gemacht, bevor diese Berichterstattung war - uns nach der Studie, die hohe Gewaltbetroffenheit von Menschen mit Behinderung gezeigt hat, damit befasst haben: "Woher kommt Gewalt und wie können wir adäquat mit ihr umgehen?"

Wir haben dazu entsprechende Seminare, wir haben eine Publikation, das heißt, das hatten wir eigentlich alles schon, als diese Berichterstattung kam. Und wir haben deshalb überlegt, was ist etwas, was wir noch dazu beitragen können neben dem, dass eben viele Lebenshilfen sich noch mal kritisch hinterfragt haben. Sie haben sich mit Bewohnerinnen und Bewohnern die Bilder angeschaut und haben selber darüber gesprochen. Wir haben eine bundesweite Beschwerdestelle eingerichtet, und zwar als unabhängige Beschwerdestelle, nicht bei uns selbst, sondern bei einem anderen Träger, bei der sich Menschen mit Behinderung, ihre Angehörigen und Freunde, aber eben auch Mitarbeitende beschweren können.

Ich bin sehr froh, dass tatsächlich die Menschen mit Behinderung die höchste Anzahl derer ist, die sich dort melden, weil es zeigt, dass wir auch da mit der leichten Sprache, mit Informationen in leichter Sprache tatsächlich die erreichen, die wir erreichen wollen, dass Menschen mit Behinderung selber die Möglichkeit haben, etwas zu sagen. Trotzdem ist das für uns natürlich nur das letzte Überlaufventil. Es muss vorne anfangen. Menschen mit Beeinträchtigung müssen Selbstbewusstsein haben und müssen so gestärkt sein, dass sie wissen, dass sie Grenzen setzen dürfen. Auch wenn das manchmal schwer ist, wenn man versorgt wird, wenn man unterstützt wird, wenn man auch in einer abhängigen Situation ist. Und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter brauchen entsprechende Arbeitsbedingungen, damit es funktioniert. Sie brauchen eine gute Fachlichkeit und sie brauchen letztendlich das Bewusstsein darüber, dass es Situationen geben kann, wo sie auch bei Kolleginnen und Kollegen aufmerksam sein müssen. Denn tatsächlich ist unsere Überzeugung, dass, wenn es zu Vorfällen und Übergriffen kommt, dass es im Kollegenkreis in der Regel bekannt ist und dass klar sein muss, dass man an der Stelle dann auch aktiv werden muss.

Dafür haben wir unsere bisherigen Materialien auch um eine Checkliste ergänzt, bei der eben einerseits die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter besonders angeschaut werden, weil sie letztlich ja die Verantwortung für fachliches Handeln haben, aber eben auch geguckt wird, wie bei uns Klientinnen und Klienten so einbezogen sind, dass sie eben eine Möglichkeit haben, sich zu wehren, sich zu beschweren und um eben tatsächlich in der Organisation beide Perspektiven zu haben.

Matthias Klaus: Frau Günther, wenn Sie in der Bundesvereinigung Lebenshilfe im Vorstand sind und Ihre Anliegen vorbringen, was ist für Sie als Vertreterin von Menschen mit Behinderung das Wichtigste, was Sie dort nicht müde werden, immer wieder einzubringen? Was ist Ihnen das Wichtigste, was Sie in diesem Gremium sagen wollen?

Ramona Günther: Leichte Sprache und Barrieren abbauen! Es sind viel zu viele Barrieren noch! Ich finde, es müsste überall Lotsen geben oder Assistenten, Begleiter, wie man sie auch nennen will. Das wäre für uns eine Hilfe, weil ich schon sehr viel kann. Aber irgendwann sagt mein Kopf auch 'Peng!' Und dann stehe ich da, weil die Leute dann genervt sind, wenn du tausend Mal nachfragst. Ich frag aber lieber tausendmal und ein oder zweimal nach, nur um sicher zu gehen. Ich kann es nicht leiden, wenn ich unterwegs bin und komme nicht weg und kriege aber auch keine Antwort.

Matthias Klaus: Wenn Sie jetzt einen Wunsch frei hätten für etwas, was sich in Deutschland unbedingt und zwar jetzt sofort ändern muss, was wäre das?

Ramona Günther: Leichte Sprache, und zwar überall. Es ist egal, wo du hinreist. Weil wir jetzt auch viele aus der Ukraine haben und sonst was für Leute. Das kann nur zum Vorteil sein. Oder die Eltern bauen ja auch ab oder kriegen eine Krankheit wie die Politiker. Das muss selbstverständlich sein, sodass jeder – ich will nicht das Wort "Depp" benutzen –, aber dass jeder Mensch, alle, die es trifft, eigentlich alle auf dem ganzen Erdball, dass sie zurechtkommen und wir nicht tausendmal fragen müssen und dieses "Ne, ich bin nicht von hier, ich weiß es nicht." Das gibt's doch nicht!

Matthias Klaus: Frau Nicklas-Faust, was würden Sie dem hinzufügen? Was sind die nächsten wichtigen Aufgaben, die der Bundesverband Lebenshilfe umsetzt, jenseits von leichter Sprache und der Neudefinition der Werkstattarbeit?

Jeanne Nicklas-Faust: Ramona hat es ja eben schon ausgedrückt. Es geht ihr darum, ohne Unterstützung selbst zurechtzukommen. Und das ist eigentlich das Bild für die gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderung in dieser Welt, der Zielvorstellung einer inklusiven Gesellschaft. Und das gibt es natürlich für alle Lebensbereiche von Geburt an, dass es die entsprechende Förderung gibt, dass es ein Gesundheitssystem gibt, in dem Menschen mit Behinderung angenommen und gut aufgehoben sind bis zu der Frage eines inklusiven Kindergartens, einer inklusiven Schule, einem guten Freizeitangebot, entsprechenden Unterstützungsmaßnahmen für die gesamte Familie bis dahin, dass Menschen mit Behinderung in ihrem Leben die Wahl haben, dass auch Menschen mit geistiger Behinderung wählen können, wie sie leben, wie sie wohnen und wie sie arbeiten wollen, mit wem sie was unternehmen wollen und wie sie in dieser Welt zu Hause sind.

Matthias Klaus: Wünsche und politische Forderungen von Ramona Günther aus dem Vorstand der Bundesvereinigung Lebenshilfe und Frau Dr. Jeanne Nicklas-Faust, Geschäftsführerin des Bundesverbandes Lebenshilfe. Das war "Echt behindert!" für heute.

Ich danke Ihnen beiden, dass Sie Zeit hatten, in unserem Podcast ein wenig darüber zu erzählen, wie die Lebenshilfe funktioniert, wie sie entstanden ist und auch, wie sie sich in Zukunft weiterentwickeln wird und welche Forderungen Sie beide selber stellen.

Vielen Dank und einen schönen Abend wünsche ich Ihnen beiden.

Jeanne Nicklas-Faust: Danke. Gleichfalls!

Ramona Günther: Ja. Ebenfalls! Ciao.

Matthias Klaus: Das war "Echt behindert!" für heute. Mein Name ist Matthias Klaus.

Sprecher: Mehr folgen unter dw.com/echtbehindert.

Dieses Transkript wurde zum Zwecke der Barrierefreiheit unter Nutzung einer Spracherkennungs-Software erstellt und danach auf offensichtliche Fehler hin korrigiert. Es erfüllt nicht unsere Ansprüche an ein vollständig redigiertes Interview. Wir danken für das Verständnis.