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Kulturrevolution und Neue Linke im Westen

Hans Spross16. Mai 2016

Mao und Ho Chi Minh waren Ikonen der westdeutschen und europäischen Studentenbewegung. Was hinter der Anziehungskraft der chinesischen Kulturrevolution auf die Linke im Westen steckte, erläutert Sinologe Felix Wemheuer.

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Deutschland Demonstranten mit Bildern von Lenin, Ho Tschi Minh und Mao Tsetung vor der Tribüne auf dem Königsplatz in München 1967 (Foto: picture-alliance/dpa/G. Rauchwetter)
Bild: picture-alliance/dpa/G. Rauchwetter

Deutsche Welle: Nicht nur in China, auch in Deutschland hatten Ende der 60er Jahre viele Oberschüler und Studenten die "Worte des Vorsitzenden Mao", auch als "Kleines Rotes Buch" und als "Mao-Bibel" bekannt, in der Tasche. Mao-Zitate garnierten Flugblätter sozialistischer Studentenorganisationen und wurden auf Demonstrationen der außerparlamentarischen Opposition (APO) skandiert. Was steckte hinter der Begeisterung für die chinesische Kulturrevolution und für Mao in Deutschland und in anderen westeuropäischen Ländern?

Wemheuer: Grundvoraussetzung war, dass es eine entsprechende Aufnahmebereitschaft gab. Viele westeuropäische Gesellschaften waren in einer Sinnkrise, in der viele Jugendliche, Intellektuelle, aber auch Arbeiter angefangen hatten, die eigene Gesellschaft in Frage zu stellen. Eine wichtige Rolle spielte dabei der Vietnamkrieg, wo die USA furchbare Kriegsverbrechen begingen, sich aber gleichzeitig als moralische Autorität des Westens aufspielten.

Aber auch die Sowjetunion war bei vielen diskreditiert. Nach der Niederschlagung von Aufständen in Ungarn und in der Tschechoslowakei (CSSR) war die Linke auf der Suche nach revolutionären Modellen oder Vorbildern. Da kam ab Mitte der 60er Jahre das maoistische China ins Spiel.

Wie sind Informationen beziehungsweise die Vorstellungen über die Kulturrevolution und das kommunistische China nach Europa gelangt? Internet gab es ja noch nicht, noch nicht einmal ständige Korrespondentenbüros wie heute.

Ein wichtiger Kanal waren die westlichen Revolutionstouristen, mit der Vorgeschichte von Autoren wie dem US-Journalisten Edgar Snow, der in den 30er Jahren den kommunistischen Stützpunkt Yan'an besucht hatte und dessen Reisebericht Mitte der 60er Jahre wieder massenhaft aufgelegt wurde. Dort schilderte er die chinesischen Kommunisten als volkstümliche und demokratische Alternative zur UdSSR. Einflussreich war auch der Reisebericht "Bericht aus einem chinesischen Dorf" von Jan Myrdal. (Myrdal ist ein schwedischer Schriftsteller und hatte in seinem Reisebericht mit Maos Politik sympathisiert. Anm. d. Red.)

Man sollte aber auch die Tätigkeit der chinesischen Regierung nicht unterschätzen, die schon ab Mitte der 50er Jahre eine große Anzahl von Journalen publizierte, die für das Ausland konzipiert waren und in den 60er Jahren in allen möglichen Sprachen übersetzt wurden. Aus heutiger Sicht sagen wir vielleicht, dass das eine sehr hölzerne Propagandasprache war. Aber ich habe in Zeitzeugeninterviews festgestellt, dass das auch viele deutsche intellektuelle Linke zumindest in der Anfangszeit sehr ernst genommen hatten. Und besonders für die sogenannten K-Gruppen, die in der Nachfolge der Studentenbewegung Anfang bis Mitte der 70er Jahre entstanden, waren die offizielle chinesischen Publikationen ein sehr wichtiger und ernsthaft rezipierter Bezugspunkt.

Was war über das menschliche Leid und die Zerstörungen infolge der Kulturrevolution bekannt?

Als im Sommer 1966 in Peking Lehrer angegriffen und Kulturgüter zerstört wurden, gab es darüber schon Berichte im Wochenmagazin "Der Spiegel" und anderen Presseorganen in Deutschland. Sehr wenig bekannt waren sicher die Säuberungsaktionen der Armee, nachdem 1968/69 die Ordnung wiederhergestellt worden war. Das wurde auch in China nicht groß bekannt gegeben, sondern das waren klassische stalinistische Methoden, wo man Feinde verhaftete, exekutierte oder in Lagern verschwinden ließ.

Die neueren Forschungen sprechen von 1,2 bis 1,6 Millionen Opfern insgesamt, die meisten davon in der Phase der Demobilisierung. Der rotgardistische Mob hatte im Sommer 1966 vielleicht 10.000 Opfer gefordert, die bewaffneten Fraktionskämpfe mehrere 10.000, aber in die Hunderttausende ging es erst mit den späteren Säuberungsaktionen.

Hätten die Linken im Westen anders reagiert, wenn sie mehr über die Ereignisse gewusst hätten?

Darüber kann man nur spekulieren. Aber klar ist, dass sich innerhalb der neuen Linken Argumente zur Rationalisierung von Gewalt etabliert hatten. Unter anderem mit dem Argument, dass es den Deutschen mit Nazi-Vergangenheit und als "imperialistisches" Land nicht zustehe, den chinesischen Genossen moralische Lektionen zu halten, was sie tun dürfen oder nicht tun dürfen. Und so gab es beispielsweise K-Gruppen, die sogar die kambodschanischen Roten Khmer noch nach ihrem Sturz 1978/79 verteidigt hatten. Andere hatten sich allerdings schon früher von diesem Regime distanziert.

Wie konnte die Kulturrevolution Vorbildcharakter für die Bewegungen von 1968 bekommen, wo haben die westlichen Bewegungen sich bei der chinesischen eingehakt?

Die Kulturrevolution in China war zumindest am Anfang auch eine Studentenbewegung, die sich gegen Lehrer und akademische Autoritäten richtete, und in der zweiten Phase, ab Herbst 1966, auch gegen die Parteibürokratie. Und da hatten viele die Parallelen gesehen, besonders in Italien und Frankreich, deren kommunistische Parteien ebenfalls als zu bürokratisch und zu reformistisch wahrgenommen wurden. Viele ihrer Mitglieder oder Sympathisanten haben sich gesagt: Aha, wir sind ja in einer ähnlichen Lage wie diese revolutionären Jugendlichen in China.

Ganz zentral war darüber hinaus die Dritte-Welt-Ideologie Chinas, der zufolge in der Dritten Welt ein Befreiungskampf gegen Imperialismus stattfand. China hatte sich schon vor der Kulturrevolution sehr stark in Szene gesetzt als Modell einer Befreiung eines halbkolonialen Landes in der Dritten Welt. So wurden Guerillakämpfer aus Afrika in China ausgebildet. Man hatte Berater dahin geschickt. Und die Idee, vom Land aus die Städte einzunehmen, wurde als universelles Erfolgsmodell der Befreiung propagiert. Das war die Grundlage dafür, dass auch die Kulturrevolution als Bewegung eines Landes der Dritten Welt wahrgenommen wurde, und nicht nur als kommunistisches Projekt.

Daran fanden sogar konservative und antikommunistische Kreise in Deutschland Geschmack, denn hier bot sich ein Ausweg aus einer bipolaren Weltsicht hin zu einer multipolaren. Es eröffnete sich die Möglichkeit eines Bündnisses mit China gegen die Sowjetunion. Sogar ein dezidierter Antikommunist wie Franz-Josef Strauß (Strauß war Vorsitzender der CSU und bayerischer Ministerpräsident, Anm. d. Red.) hatte lobende Worte für Mao.

Prof. Dr. Felix Wemheuer Universität Köln (Foto: privat)
Felix Wemheuer: Zentrales Element war die Dritte-Welt-IdeologieBild: privat



Gibt es Parallelen im Ablauf zwischen der Kulturrevolution in China und der 68er Bewegung in Westeuropa?

Ja. In China war die erste Phase von Sommer 1966 bis Frühjahr 1967 die der sogenannten Volkskulturrevolution, mit Momenten einer spontanen Revolte gegen den Apparat. Etwas Ähnliches gab es 1968 in Deutschland und Frankreich mit der antiautoritären Studentenbewegung. Dann wurde in China das Chaos zu groß. Und Mao versuchte, zuerst mit Hilfe der Armee und dann der Partei, die Ordnung wiederherzustellen, und war dann bis zu seinem Tod 1976 damit beschäftigt, die Herrschaft der KP zu restaurieren.

Auch in Europa gab es zum Ende der antiautoritären Phase Ende 1968 und Anfang 1969 die Wahrnehmung, dass die Studentenbewegung eigentlich gescheitert sei und dass man festere Parteistrukturen brauche. Den Aktivisten im Westen war dieser Bruch in der Kulturrevolution wohl nicht völlig bewusst, und auch nicht, dass die entsprechenden Ereignisse bei ihnen mit einiger Verspätung stattfanden. Ein Beispiel sind die italienischen Linkskommunisten, besonders die Gruppe "Il Manifesto", die sich 1969 auf die spontane antiautoritäre Kulturrevolution bezieht, die damals in China eigentlich schon vorbei war.

Wenn man den Einfluss Chinas auf den Westen zu Zeiten der Kulturrevolution mit dem heutigen vergleicht, was fällt Ihnen auf?

Mao wollte die Welt komplett auf den Kopf stellen. Aber letztendlich hat die Revolution dazu geführt, dass sich heute ein starkes China in die kapitalistische Weltwirtschaft und in die bestehenden Machtstrukturen integrieren konnte. Aber Chinas heutige "Soft Power" bleibt doch weit hinter der von 1968 zurück. Es gibt wohl nur sehr wenige Deutsche, die heute sagen würden, das deutsche System sollte sich nach dem von China ausrichten.

Ma-Proteste in Paris 1968 (Foto: picture-alliance/dpa/EPA/PREFECTURE DE POLICE MUSEUM)
Auch die Streiks und Demonstrationen vom Pariser "Mai 68" waren von Maos Kulturrevolution inspiriertBild: picture-alliance/dpa/EPA/PREFECTURE DE POLICE MUSEUM

Felix Wemheuer ist Professor für Moderne China-Studien am Ostasiatischen Seminar der Universität zu Köln und Autor einer 2009 erschienen Biographie über Mao Zedong.