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PolitikEuropa

Kriegsangst oder Friedenshoffnung zum neuen Jahr?

Jacek Lepiarz Warschau | Florian Schmitz Athen | Cristian Stefanescu Bukarest | Alexandar Detev Sofia
1. Januar 2023

Inflation, Energieknappheit, Radikalisierung - Europa steht vor unsicheren Zeiten. Was bewegt die Menschen in Polen, Griechenland, Bulgarien und Rumänien zur Jahreswende? Wir haben uns umgehört.

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Bilder des Jahres 2022 | Silvester Jahreswechsel 2023
Bild: WILLY KURNIAWAN/REUTERS

Das Jahr 2022 war für die Menschen in Europa geprägt und überschattet vom russischen Krieg gegen die Ukraine. Viele Anrainerstaaten haben Flüchtlinge aufgenommen und Waffen an die Ukraine geliefert, in Südosteuropa haben unbewältigte Spannungen wieder zugenommen. Zu Beginn des Jahres 2023 steht der Kontinent vor unsicheren Zeiten.

Wir haben uns in vier Ländern Mittel- und Südosteuropas umgehört, mit welchen Erwartungen die Menschen in das neue Jahr gehen.

Polen: Zwischen Hoffnung und Verzweiflung

"Die letzten Jahre haben uns schwer geprüft", sagt die 66-jährige Lehrerin Wanda Nowicka. Covid, der Krieg in der Ukraine und die galoppierende Inflation hätten den Menschen in Polen schwer zugesetzt. Die Feministin sitzt für die polnische Linke im Parlament (Sejm) und kämpft seit Jahrzehnten für die Rechte der Frauen und die weltanschauliche Neutralität des Staates. Für das Jahr 2023 wünscht sie sich vor allem Ruhe. "Toll wäre ein ruhiges Jahr ohne Sensationen und Erschütterungen, damit wir ohne Angst leben können."

Ein unbeleuchteter schneebedeckter Christbaum in der Stadt Tychy in Polen. In Polen haben im Dezember 2021 viele Städte aus Solidarität mit der Ukraine die Weihnachtsbeleuchtung für eine Stunde abgestellt
In Polen haben viele Städte aus Solidarität mit der Ukraine die Weihnachtsbeleuchtung für eine Stunde abgestelltBild: Jakub Porzycki/AA/picture alliance

Ein ruhiges Jahr bedeutet aber nicht ein Jahr ohne politisches Engagement. "Es stimmt nicht, dass wir keinen Einfluss auf den Lauf der Dinge haben", sagt die Parlamentarierin. Beim Krieg sei es schwierig, aber beim Umweltschutz könne jeder einen Beitrag leisten, auch im Privatleben. "Die junge Generation in Polen nimmt dieses Problem sehr ernst."

Mit Blick auf die im Herbst anstehende Parlamentswahl ist Nowicka zuversichtlich, dass die liberale und linke Opposition nach acht Jahren die regierende Rechte besiegen kann. "In der polnischen Politik muss es endlich zu einer Wende kommen. Jedes andere Szenario wäre katastrophal", so die Sejm-Abgeordnete.

Pessimistisch ist dagegen der 67-jährige Unternehmer Krzysztof Krawiec. "Ich erwarte nichts Gutes", sagt der Geschäftsmann, der in Warschau seit mehr als 30 Jahren ein Geschäft mit hochwertigen Lederwaren betreibt. Im Schaufenster seines Ladens locken elegante Rucksäcke aus weißem Leder, edle Handtaschen von ausnehmender Qualität, Geldbörsen in Schwarz und Rot.

Der Unternehmer Krzysztof Krawiec in seinem Lederwarengeschäft in Warschau  vor einem Regal mit Taschen, Rucksäcken und Ledergürteln
Krzysztof Krawiec in seinem Lederwarengeschäft in WarschauBild: Jacek Lepiarz/DW

"So schlecht wie jetzt lief das Geschäft noch nie", klagt Krawiec. Die seltenen Kunden, die in seinen Laden kommen, sehen sich um und gehen, ohne etwas zu kaufen. Die Inflation treibt die Preise in die Höhe, die Menschen haben andere Probleme als eine neue Brieftasche. Darum denkt der Unternehmer sogar darüber nach, aufzugeben. "Noch muss ich nicht aus meiner Rente die Verluste ausgleichen, aber wenn es soweit ist, mache ich dicht", sagt er resigniert.

Griechenland: Dauerkrise, Medienskandal, Wahlkampf

Auch in Griechenland schauen viele mit Pessimismus in die Zukunft. Der 56-jährige Angestellte Sotiris zum Beispiel sieht düstere Zeiten kommen: "Ich habe überhaupt keinen Optimismus. Die Situation in Griechenland ist so schlecht, dass wir keine Vorhersagen treffen können."

Griechenland befindet sich im Dauerkrisenmodus. Die Inflationsrate von etwa neun Prozent liegt zwar knapp unter dem europäischen Durchschnitt. Die extrem gestiegenen Preise für Gas und Lebensmittel aber treffen die Menschen hart. Das könnte auch Auswirkungen auf die Wahlen im April 2023 haben. Zwar lag die Regierungspartei Nea Dimokratia mit 31,6 Prozent Ende November 2022 weiter vor der stärksten Oppositionspartei Syriza (25,8 Prozent), doch der Abstand verringert sich. Generell misstrauen die Griechen sowohl der Politik als auch den Medien.

Der 42-jährige Maler Gerasimos fordert daher Reformen: "Es muss endlich einen systematischen Wandel geben, auch in der Verfassung. Vielen Menschen fehlt es am Nötigsten. Die wirtschaftliche Situation ist für viele ein großes Problem. Die Reichen werden reicher und die Armen ärmer."

Die griechische Jungunternehmerin Elektra in einem Geschäft mit bunten Stofftaschen lächelt in die Kamera
Die griechische Jungunternehmerin ElektraBild: Florian Schmitz/DW

Das sieht die 35-jährige Unternehmerin Elektra ähnlich. Angesichts des sich immer mehr ausweitenden Überwachungsskandals und einer Regierung, die vor allem in den Polizeiapparat investiere und Vetternwirtschaft betreibe, könnten die Dinge nur besser werden, wenn sich die Machtverhältnisse änderten: "Die Situation ist sehr schwierig. Die Menschen haben kein Geld, um einzukaufen. Das Steuersystem bietet keine Unterstützung für Jungunternehmer." Sie selbst erlebe das am eigenen Leib: "Die Ausgaben sind extrem hoch. Es scheint, als ob der Staat einem nicht helfen möchte. Hilfe gibt es nur für große Unternehmen."

Rumänien: Vorwahljahr mit globalen Problemen

Rumänien ist als direkter Nachbarstaat der Ukraine besonders betroffen vom russischen Angriffskrieg und seinen Folgen. Die aggressive Politik des Kreml, die brutale Propaganda und die wahllosen Angriffe auf zivile Ziele in der Ukraine haben auch die rumänische die Gesellschaft beunruhigt. Nur etwa ein Drittel der Rumänen hält ein Ende des Kriegs im Jahr 2023 für möglich. Jeder zweite ist diesbezüglich skeptisch, und ein Drittel der Befragten fürchtet sogar, dass Moskaus Drohungen mit Atomwaffen Realität werden könnten. Dies ergab eine Umfrage des Marktforschungsinstituts IPSOS.

Jodtabletten
Viele Anrainerstaaten der Ukraine horten Jodtabletten - aus Angst vor einem AtomkriegBild: Fabian Sommer/dpa/picture alliance

Die Folgen des Kriegs im Nachbarland, Inflation und Energiekrise werden auch das nächste Jahr bestimmen. Laut eJobs, einem Portal für Stellenangebote, befürchtet ein Drittel der Rumänen, dass die Einkommen sinken oder dass sie keinen Job auf dem Arbeitsmarkt finden werden. Kaum einer glaubt, dass weitere Preissteigerungen zu vermeiden sind. Diejenigen, die sich um ihren Arbeitsplatz nicht sorgen müssen, hoffen auf die Einführung der Vier-Tage-Woche und auf die Fortsetzung der Möglichkeiten zum Home Office. 

Auch Unternehmer sehen mit gemischten Gefühlen in die Zukunft. Sie befürchten geringere Rendite aufgrund von Inflation, höheren Kreditpreisen und einem unberechenbaren Markt. Dies geht aus einer Befragung der Consulting-Firma Sierra Quadrant unter Managern und Unternehmern hervor.

2023 ist für Rumänien ein Vorwahljahr. Daher sind die Rumänen besorgt über das Verhalten der wichtigsten politischen Akteure und fürchten populistische Gesten. "Wir gehen davon aus, dass das Jahr 2023 ganz im Zeichen der Themen Lebenshaltungskosten und Lebensstandard stehen wird", sagt Cristian Andrei, Geschäftsführer der Agentur für Politisches Rating im Gespräch mit der DW.

"Wir werden Debatten erleben, die sozial und wirtschaftlich polarisieren, mit Protestkundgebungen, aber auch nationalistische Diskurse als Reaktion auf wirtschaftliche Frustrationen."

Niedrigwasser an der Donau in Rumänien mit Blick auf Bulgarien am anderen Ufer
Das Jahr 2022 brachte für Rumänien extreme Dürre und NiedrigwasserBild: Tiberiu Stoichici-Varlan/DW

Und noch ein anderes Thema macht den Rumänen Sorgen: Nach mehreren Jahren mit extremen Wetterbedingungen haben viele von ihnen Angst vor einem weiteren Dürre-Jahr.

Bulgarien: Politische Krise und wirtschaftliche Unsicherheit

"Der Krieg in der Ukraine, das Bedürfnis nach Solidarität, mehr Menschen, die Zuflucht suchen, die gestürzte Regierung in Sofia und die Unsicherheit - so werde ich das Jahr 2022 in Erinnerung behalten", sagt Dessislava Hristova mit Blick auf das zu Ende gehende Jahr. Die Bulgarin arbeitet bei einer Nichtregierungsorganisation und ist auch als Wahlexpertin tätig. "Wahlen" ist ein Schlüsselwort für Bulgarien. Aufgrund der anhaltenden politischen Krise haben die Bulgaren in den letzten zwei Jahren viermal gewählt, zuletzt am 2. Oktober 2022. Im Frühjahr 2023 steht wahrscheinlich eine weitere Stichwahl an.

Das Ehepaar Dessislava Hristova aus Bulgarien und Rodi Namo aus Syrien schmiegt sich aneinander und lächelt in die Kamera
Das Ehepaar Dessislava Hristova und Rodi Namo Bild: Privat

Die politische Krise und die wirtschaftliche Unsicherheit beunruhigen die Bulgaren immer mehr. Der Krieg in der Ukraine hat zu einer Spaltung in dem Land geführt - zwischen 20 und 25 Prozent der Bevölkerung unterstützen immer noch den Aggressor Russland.

"Ich bin besorgt über das Fehlen von Gemeinschaftsgefühl, Gegenseitigkeit und Verständnis", sagt Dessislava. In der Gesellschaft fehle das Bewusstsein für die Notwendigkeit von Veränderungen und die Bereitschaft, etwas dafür zu tun. Ihr Ehemann Rodi Namo ist zuversichtlicher als sie: "Ich hoffe, dass es im nächsten Jahr mehr gute Tage gibt." Rodi kommt aus Syrien, lebt aber seit 7 Jahren in Bulgarien. "Ich lasse mich nicht von schlechten Gedanken unterkriegen", sagt er. "Trotz aller Schwierigkeiten haben wir es geschafft, weiterzumachen. Wir hatten viele Herausforderungen, aber das Wichtigste ist, dass wir gesund und stärker sind."

Für das Jahr 2023 wünscht er sich Glück und "möge die Welt ein besserer Ort für alle sein, egal woher sie kommen". Diesem Wunsch schließt sich seine Frau Dessislava an und findet dann poetische Worte für einen hoffnungsvollen Ausblick auf das kommende Jahr: "Jeder soll das finden, was ihn zumindest ein bisschen glücklich macht und sich dem widmen, damit wir diese kleinen Lichter des Glücks sammeln und gemeinsam die Dunkelheit bekämpfen können."

Westbalkan-Jugend: Wünsche für 2023

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Jacek Lepiarz Journalist in der polnischen Redaktion mit Schwerpunkt auf deutsch-polnischen Themen.
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Florian Schmitz Reporter mit Schwerpunkt Griechenland