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PolitikKosovo

Kosovo: Endlich frei reisen

12. Januar 2024

Kosovo hat als letztes Westbalkanland die Visafreiheit für EU-Staaten erhalten. Der lange befürchtete Massenexodus aus dem armen Land ist ausgeblieben. Aber einige Veränderungen sind schon offensichtlich.

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Blonde Frau mit Brille hält einen blauen Beutel hoch, Aufschrift: Visaliberalisierung für Kosovo #OhneVisa
Kosovarische Reisende am Flughafen von Prishtina. Ihr Beutel trägt die Aufschrift: "Visaliberalisierung für Kosovo #OhneVisa"Bild: LAURA HASANI/REUTERS

Seit langem träumt Miliana Lasku Canaj aus Prizren im Süden Kosovos davon, einmal ihren Sohn Patrik zu besuchen. Er ist vor 15 Jahren nach Deutschland ausgewandert und lebt mit seiner Frau und seinen Kindern in München. Die 62-jährige Canaj war noch nie dort, sie hat die Geburt ihrer Enkel und die meisten Geburtstage ihres Sohnes und seiner Kinder verpasst. Denn sie hatte keine Energie, die aufwendige Prozedur zur Erlangung eines Visums zu durchlaufen.

Bisher brauchten Kosovaren ein Visum, um in EU-Staaten zu reisen. Sie waren damit die letzten unter den Staaten der Westbalkan-Region und die einzigen in Europa außer Belarus und Russland. Doch das ist nun Geschichte. Seit dem 1. Januar 2024 können Kosovaren visumfrei für bis zu 90 Tage in EU-Länder reisen. Miliana Lasku Canaj, die in Prizren ein Blumen- und Dekorationsgeschäft betreibt, freut sich. "Nun kann ich zu jedem Anlass zu meinem Sohn fahren, ohne den ganzen Aufwand. Darüber bin ich sehr glücklich", sagt sie.

Mann mit kurzen schwarzen Haaren und Bart (Mehdi Sejdiu) steht auf einem Platz und blickt in die Kamera
Der kosovarische Politologe Mehdi SejdiuBild: Vjosa Çerkini/DW

Fast zwölf Jahre dauerte der Kampf der Kosovaren gegen die Mühlen der EU-Bürokratie.  Die deutsche Botschaft stellte am 18.12.2023 das letzte Visum für eine Besuchsreise aus. Der Politologe Mehdi Sejdiu war zeitweise an der Kampagne der Regierung in Prishtina beteiligt, um die Reisefreiheit zu erreichen - er leitete die Arbeitsgruppe für die Visaliberalisierung. Für ihn ist klar: "Die Visafreiheit bringt sehr viel, wir sind nicht mehr isoliert. Es war eine Ungerechtigkeit für die nur 1,8 Millionen Kosovaren." Und er ergänzt: "Viele Kosovaren konnten nicht einmal ihre Verwandten besuchen, die während des Krieges vor fast 25 Jahren geflohen waren."

Reisen durch hohe Visa-Kosten verhindert

Viele Kosovaren nutzten Reisebusse für Fahrten nach Deutschland, in der Nebensaison auch Angebote der Fluggesellschaften. Oft blieben sie so unter 100 Euro für eine Strecke. Angesichts dessen waren die Kosten für ein Visum auffällig hoch. Allein die Gebühren für einen Visumsantrag betrugen beispielsweise bei der deutschen Botschaft in Prishtina 35 Euro, hinzu kamen mindestens 25 Euro für die Vermittlungsagenturen, die im bürokratischen Dschungel halfen, außerdem Kosten für Kopien und Übersetzungen von Dokumenten sowie Versicherungen. Insgesamt waren also schon um die 100 Euro fällig, bevor man eine Reise überhaupt buchen konnte.

Kosovo: Ein halbes Jahr für ein Visum

Der Stadtteil Arberia in der kosovarischen Hauptstadt Prishtina. Hier stehen viele repräsentative Villen, und hier haben sich auch viele Auslandsvertretungen niedergelassen, unter anderem die deutsche Botschaft. Dennoch ist das Straßenbild anders als in einer normalen noblen Wohngegend: Überall hängen Werbeschilder von Dienstleistungsunternehmen, die den Kosovaren bisher halfen, ihre Visumsanträge vorzubereiten.

Warnung vor Illusionen

Die Agentur Incoming-G, die sich auf deutsche Visaanträge spezialisiert hatte, ist in einer umgebauten Garage direkt neben der deutschen Botschaft untergebracht. Der 46-jährige Gazmend Klinaku, Inhaber der Agentur, verdiente jahrelang ein gutes Einkommen mit seiner Dienstleistung. Nun muss er sich beruflich umorientieren. Doch er freut sich für seine Landsleute und sieht vor allem für Studierende und Unternehmer Vorteile durch die Visaliberalisierung. Allerdings warnt er auch vor Illusionen: "Das Leben in Europa ist teuer. Viele werden enttäuscht sein, dass es nicht das Europa ist, was sie sich vorgestellt hatten, dass es nicht das Paradies ist", sagt Klinaku.

Mann mit kurzen Haaren hinter einem Computerbildschirm lächelt und blickt in die Kamera
Gazmend Klinaku, Chef und Eigentümer der Visa-Agentur Incoming-G, in seinem Büro in der kosovarischen Hauptstadt PrishtinaBild: Vjosa Çerkini/DW

Bis zu 90 Tage haben die Kosovaren nun Zeit für Besuche bei Verwandten oder für touristische Unternehmungen. Für ein Arbeitsverhältnis ist weiterhin ein Visum notwendig. Lirim Krasniqi von der NGO Germin, die sich um die albanische Diaspora auf der ganzen Welt kümmert, sieht aber gerade hierin ein Risiko: "Ich denke, dass es Fälle geben wird, in denen die Visaliberalisierung missbraucht werden wird. Die Kosovaren haben viele Verwandte, die in Europa leben. Viele werden also in Betracht ziehen, einer illegalen Beschäftigung nachzugehen."

Verlockendes Lohnniveau

Vor allem das Lohngefälle zwischen Kosovo und westeuropäischen Ländern dürfte ein Anreiz für Kosovaren sein, ihr Land zu verlassen - das kosovarische Durchschnittseinkommen beträgt rund 400 Euro im Monat. Zwar liegen die Lebenshaltungskosten im Land deutlich unter westeuropäischem Niveau, dennoch kommen die meisten Kosovaren mit einem normalen Einkommen gerade so über die Runden. "So etwas wie einen Mindestlohn kennt man in Kosovo nicht", sagt Krasniqi. "Wenn die Menschen Schlagzeilen lesen, dass in Deutschland zwölf Euro und mehr pro Stunde bezahlt werden, ist das sehr verlockend und wirkt wie das Paradies."

Mädchen (Anduela Binakaj) mit schwarzen, lockigen Haaren auf der Straße
Anduela Binakaj, Schulabsolventin aus Prishtina, möchte in Kosovo bleibenBild: Vjosa Çerkini/DW

Viele kosovarische Unternehmer befürchten nun, dass sie durch die Visaliberalisierung bald nicht mehr genug Arbeitskräfte finden werden. Eine Stichprobe in Prishtinas Fußgängerzone zeigt jedoch ein gemischtes Bild. Anduela Binakaj, Schulabsolventin aus der kosovarischen Hauptstadt, sagt: "Ich freue mich über die Visumsfreiheit, weil es Freude macht, in andere Länder zu reisen und sie zu sehen. Eigentlich will ich Kosovo nicht verlassen, weil ich hier geboren und aufgewachsen bin. Allerdings ist unklar, welchen Beruf ich in Zukunft wählen werde und ob es hier einen guten Job für mich gibt".

Junger Mann mit schwarzen Haaren auf der Straße
Der Student Driton SelfiajBild: Vjosa Çerkini/DW

Driton Selfiaj, Student, Anfang 20, freut sich darauf, "überall hin" frei reisen zu können. "Die meisten meiner Freunde wollen weg. Ich persönlich denke, dass junge Menschen die Visaliberalisierung nutzen werden, um das Land zu verlassen, aber ich selbst habe das nicht vor", erzählt er.

Kein Massenexodus

Auch insgesamt bietet sich ein eher gemischtes Bild: Von einem Massenexodus ist bisher nichts zu spüren. Dennoch haben aber beispielsweise einige Fluggesellschaften die Anzahl ihrer Flüge nach Westeuropa erhöht. Auch bei den Telekommunikationsgesellschaften gibt es Änderungen: Sie werben nun für Tarife und SIM-Karten, die eine europaweite Kommunikation ermöglichen.

Schlange von Menschen an Schaltern in einem Flughafengebäude
Reisende am 1. Januar 2024 am Flughafen der kosovarischen Hauptstadt Prishtina Bild: LAURA HASANI/REUTERS

Gazmend Klinaku, Inhaber der Agentur für Visumsanträge, muss sich nun ebenfalls ein neues Geschäftsfeld suchen. Ihm sei seit langem klar gewesen, sagt er, dass die Visaliberalisierung eines Tages kommen würde. Er erwägt, eine Autovermietung am Flughafen zu eröffnen.

Miliana Lasku Canaj unterzieht sich derzeit mehreren medizinischen Untersuchungen - sie will sicher gehen, dass sie für die Reise nach Deutschland gesund ist. Außer ihrem Sohn hat sie noch zwei Töchter, auch die leben im Ausland, eine in Serbien, eine in Tschechien. Sie selbst kann sich nicht vorstellen, im Ausland zu leben, schon allein, weil sie ihr Blumengeschäft in Prizren weiterführen will, sagt sie. "Aber ich kann nun endlich immer zu allen Familienfesten reisen."

Porträt einer jungen Frau mit langen schwarzen Haaren
Vjosa Cerkini Themen: Kosovo, die anderen Westbalkan-Länder und deren Verbindungen zum Westen