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Europas unmenschliches Gesicht

Porträt eines Mannes mit blauem Sakko und roter Krawatte
Bernd Riegert
19. September 2015

An vielen Ecken Europas spielen sich derzeit Dramen ab. Flüchtlingsfamilien wissen nicht mehr weiter. Regierungen kapitulieren vor dem Elend. Unfassbare Zustände, die DW-Reporter Bernd Riegert in Kroatien erlebt hat.

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Flüchtlinge am Bahnhof Tovarnik (Foto: Reuters)
Bild: Reuters/A. Bronic

Warum macht ihr das mit uns? Das fragt mich ein junger Mann aus Syrien im kroatischen Grenzdorf Tovarnik. Der Mann war mit seiner Mutter und zwei Schwestern aus Damaskus über die Türkei, Griechenland, Mazedonien, Serbien bis nach Kroatien geflohen. Nun saß er in einem Straßengraben bei fast 40 Grad im Schatten, mit wenig Wasser, wenig Essen, ohne Toilette und vor allem ohne Information, wie es weitergeht. Die kroatischen Behörden lassen Tausende Menschen tagelang unter unmenschlichen Bedingungen im Unklaren. Hilfe kommt nur von einigen Dutzenden Freiwilligen, darunter eine spontane Facebook-Gruppe aus München, und von einigen Dorfbewohnern von Tovarnik.

Geht es im Zug weiter, im Bus, zu Fuß, auf eigene Faust? Niemand weiß es. Plötzlich heißt es, die Busse fahren nach Ungarn oder doch Slowenien? Die Menschen sind erschöpft, schmutzig. Weinende Kinder, jammernde Frauen, unglaubliche Zustände. Hilflose Polizisten, die versuchen keine Gewalt anzuwenden, eindeutige Anweisungen haben sie aber auch nicht. So teilen sich Polizei und Flüchtlinge den einen Gartenschlauch, der als Wasserquelle dient. Der kroatische Staat versagt. Asyl gibt es nicht mehr. Die Menschen stattdessen an der ungarischen oder slowenischen Grenze abzuladen, ist auch keine politische Lösung und führt zu Spannungen mit den Nachbarstaaten. Den Flüchtlingen ist das einerlei, sie wollen nur weg aus der Falle.

Riegert Bernd (Foto: DW)
Bernd Riegert

Menschen als politische Verschiebemasse

Als der junge Mann aus Syrien hört, dass er jetzt nach Ungarn soll, er mit seiner Familie zum Spielball der Politik zwischen den Balkanstaaten wird, schießen ihm Tränen in die Augen. Warum macht ihr das mit uns?, fragt er wieder. Ich kann ihm die Frage ebenso wenig beantworten wie die Dame vom Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen oder die Sanitäterin vom Roten Kreuz. Stundenlang stehen die Flüchtlinge an, schieben, drängeln in panischer Angst, keinen der Plätze in den Bussen oder dem einzigen Zug zu ergattern, der den Bahnhof von Tovarnik verlässt. Er habe noch Geld, er könne auch ein Ticket kaufen, erklärt der junge Syrer verzweifelt. Er wolle doch gar nichts von Serben, Kroaten, Ungarn oder Slowenen, er wolle nach Deutschland oder in die Niederlande.

Ist das noch Europa?

Das Hin und Her der Politiker, das willkürliche Verschieben der Fluchtrouten, das Ignorieren jeglicher europäischer Regeln kann ich dem jungen Mann nicht erklären. Kann das überhaupt jemand? Ich bin hilflos. Mit Menschlichkeit haben die Zustände in Tovarnik nichts mehr zu tun. Europa braucht eine Lösung, denn von der serbischen Seite drängen mehr Menschen nach. Tausende sind auf der Balkanroute unterwegs. Warum macht ihr das mit uns? Wir sind doch keine Tiere, fragt der junge Mann verzweifelt und schiebt seine Mutter in eine Schlange mit wartenden, erschöpften Menschen. Tovarnik ist nur eines der inzwischen vielen wilden Lager in Europa, man findet sie auch auf Kos, in Calais, Brüssel, Berlin usw. Das ist beschämend. Ist das noch mein Land Europa?

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Porträt eines Mannes mit blauem Sakko und roter Krawatte
Bernd Riegert Korrespondent in Brüssel mit Blick auf Menschen, Geschichten und Politik in der Europäischen Union