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Politik

Das Schweigen des Kreml

Rescheto Juri Kommentarbild App
Juri Rescheto
27. November 2016

Ein Mann aus Sibirien will die Mörder seines Urgroßvaters verklagen. Unter ihnen Josef Stalin. Russland erregt sich. Nur im Kreml will man sich nicht eindeutig positionieren. Das hat seinen Grund, meint Juri Rescheto.

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Stichworte: Denis Karagodin, Stepan Karagodin, Russland, GULAG, Stalin, RepressionenBildbeschreibung: Screenshot der Internetseite, auf der  Denis Karagodin seine Recherche über die Verurteilung und Hinrichtung seines Urgroßvaters Stepan Karagodin im stalinistischen GULAG zusammengefasst hat.
Der Blog von Denis Karagodin, in dem er seine Recherchen zum Tod seines Urgroßvaters Stepan veröffentlicht hat Bild: blog.stepanivanovichkaragodin.org

"Achten Sie nicht auf den Mann hinter dem Vorhang!" heißt es im US-amerikanischen Kinderfilm "Der Zauberer von Oz". Sprich: Fragen Sie bloß nicht zu viel, sonst erfahren Sie noch die Wahrheit. Der andere Schlüsselsatz des Films lautet: "Toto, ich habe das Gefühl, dass wir nicht mehr in Kansas sind." Sprich: Wir befinden uns in einer ganz neuen Lage.

Der Vorhang ist die Kremlmauer. Der Mann dahinter - Sie wissen schon… Dieser Mann schweigt. Zu einem Thema, über das viele in Russland gerade laut sprechen. Weil es viele berührt, beschäftigt, aufwühlt. Wieder einmal.

Der unvergessene Terror

Es geht um einen der Vorgänger von Wladimir Putin im Kreml, um Josef Stalin. Um ihn persönlich und seine Verbrechen während des sogenannten Großen Terrors zwischen 1936 und 1938. Die Verbrechen des Sowjetregimes. Zu Sowjetzeiten ein Tabu, dann das Lieblingsthema der Historiker in Russland, nach dem Jahr 2000 irgendwie in Vergessenheit geraten und jetzt wieder aktuell.

Denis Karagodin
Denis Karagodin aus Tomsk, dessen Urgroßvater 1938 nach einer gefälschten Anklage erschossen wurdeBild: D. Karagodin

Die Nachfahren der Millionen von Opfern des Stalin-Regimes sind froh: Endlich! Einer von ihnen ist Denis Karagodin aus dem sibirischen Tomsk. Er hat herausgefunden, wer persönlich für den Mord an seinem Urgroßvater verantwortlich war und fordert jetzt Strafe. Denn Mord verjährt nicht. 

Die Sowjetnostalgiker dagegen regen sich auf: Wozu in dreckiger Wäsche wühlen? Was hat Russland davon? Wichtiger ist doch: Steigen die Renten? Die Löhne? Das Lebensniveau? Dem Mann aus Tomsk gehe doch bloß um Rache. Die ganze Geschichte spalte nur das Land.

Nein. Hier geht es nicht um Rache. Der 34-jährige Denis Karagodin will nur Dinge beim Namen nennen. Die Wahrheit finden. Sie verarbeiten, verinnerlichen, um mit ihr weiterzuleben. Und es ist nicht das Sprechen über die eigene Geschichte, das die Russen spaltet, sondern das Schweigen darüber. Das Unter-den-Teppich-kehren. Das Nicht-hinter-den-Vorhang-schauen. Wie beim Zauberer von Oz.

Die Namen der Täter sind veröffentlicht

Die Menschenrechtsorganisation "Memorial" hat den Fall Karagodin aufgegriffen und die Liste von 40.000 (in Worten: vierzigtausend!) Mitarbeitern des NKWD, der Vorgängerorganisation des KGB beziehungsweise des heutigen FSB veröffentlicht. Verrat! - schreien die einen. Endlich - freuen sich die anderen. Und was sagt der Kreml dazu? Nichts.

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Juri Rescheto ist DW-Korrespondent in Moskau

Gefragt von Kollegen eines russischen Radiosenders, war Sprecher Dmitri Peskow nicht in der Lage, eine einheitliche Position des Kreml zum Umgang mit dem sogenannten Großen Terror zu formulieren. Nicht etwa, weil er das nicht wollte, sondern weil es die einfach nicht gibt. Immer noch nicht.

Zwar hat Präsident Putin 2015 die "Richtlinien der Staatspolitik zum Verewigen der Erinnerung an die Opfer politischer Repressionen" unterschrieben. Zwar soll nach diesem Erlass künftig die zentrale Gedenkstelle für die Opfer der Repressionen in Moskau entstehen, die so genannte "Mauer der Trauer". Doch gleichzeitig werden die Mitarbeiter von einem der wichtigsten historischen Vereine, die sich mit dem Thema umfassend beschäftigen - die schon erwähnte NGO "Memorial" - als ausländische Agenten diffamiert und in Russland wieder Stalin-Denkmäler errichtet. Mit stillschweigender Zustimmung des Kreml.

Putin selbst warnte vor der harten Hand

1991 warnte der damals 39-jährige Putin vor der Gefahr des Totalitarismus in Russland. Er sah diese Gefahr in der Mentalität der Russen: "Wir alle, mich eingeschlossen, glauben manchmal, wenn Ordnung mit harter Hand hergestellt würde, könnten wir alle besser, bequemer und sicherer leben. In Wirklichkeit aber wird diese Bequemlichkeit und Sicherheit schnell vorbei sein, weil eben jene harte Hand uns schon bald alle erwürgen wird."

Und heute? Noch nie hat man im modernen Russland so viel Sehnsucht nach harter Hand gespürt wie heute. Nach Zensur und Einmischung des Staats.

Wenn Grüppchen religiöser Fanatiker die Absetzung der Oper "Tannhäuser" in Nowosibirsk durchsetzen, weil die Inszenierung angeblich ihre religiösen Gefühle beleidigt. Wenn paramilitärische Kosaken-Verbände drohen, den Videoclip der Band "Neschastnyj Slutschaj" wegen Extremismus vors Gericht zu bringen, nur weil darin die falschen Russland-Patrioten ausgelacht werden. Wenn die Fotos des US-Amerikaners Jock Sturges in Moskau von sogenannten "Offizieren Russlands", den selbsternannten Moralwächtern dieses Lands, mit Urin beschmiert werden, die Polizei nicht rechtzeitig einschreitet und die Organisatoren die Ausstellung gleich darauf schließen.

Angst vor dem mündigen Volk

Für die Konfrontation mit dem Westen ist dieses Klima des Denunziantentums und der Selbstzensur gerade günstig. Und das ist der Grund, warum der Kreml den Stalin-Terror nicht eindeutig verurteilen mag.

Stattdessen herrscht die Angst, dass jede Bewegung von unten, aus dem Volk, von mündigen Bürgern, nicht von oben genehmigt, eine Bedrohung für den Machterhalt sein könnte. Und sei es der Wunsch, die Mörder der eigenen Familie zu bestrafen. "Toto, ich habe das Gefühl, dass wir nicht mehr in Kansas sind."

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Juri Rescheto Chef des DW-Büros Riga