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Kleiner Mann ganz groß

Ruth Rach17. September 2008

Gibt es unterhalb der Bordsteinkante eine eigene Welt? In London bevölkert ein Künstler mit seiner Ausstellung "Ground Zero" die Straßen Londons mit Minifiguren – so dass wir das Leben der Großstadt neu entdecken.

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U-Bahn in London
In London versteckt sich "kleine" Kunst in U-Bahn-StationenBild: dpa

Eines ist sofort klar. Diese Winzlinge leben nicht in niedlichen Puppenstuben. Im Gegenteil, sie müssen sich im Dschungel der Großstadt behaupten, werden von Spatzen verstümmelt, fallen über Bordkanten, und einer sitzt gar in einem Kotkringel fest. Typisch London, was der Künstler Slinkachu dort vor den begeisterten Besuchern in der Londoner Kunstgallerie Cosh zu Schau stellt. Slinkachu hat 28 seiner Werke ausgestellt, das Ergebnis seiner vor zwei Jahren begonnenen Arbeit. Da fing der britische "Straßen-Künstler" an, die höchstens einen Zentimeter großen Spielzeugfiguren auf Londons Straßen auszusetzen, abzulichten und dann ihrem zumeist prekären Schicksal zu überlassen.

Dramen an der Bordsteinkante

Lineal mit Maßstab
Nur einen Zentimeter groß sind die Figuren von Künstler SlinkachuBild: BilderBox

Zuerst waren es klitzekleine Einzelwesen, die er irgendwo auf Parkbänken oder Rinnsteinen zurückließ und festklebte. Inzwischen kreiert er Szenen, die Geschichten erzählen und ihren surrealen Witz aus der Konfrontation der Winzlinge mit der großen, kalten und vor allem überdimensionierten Welt beziehen.

Und diese Szenen haben es in sich: Eine Figur treibt tot in einer Regenpfütze und wird von einem kleinen Rettungsboot geborgen. Ein Männchen sitzt betrübt auf einem riesigen Verlobungsring. Ein Miniaturvater zielt mit seinem Gewehr auf eine Riesenhummel während sich hinter ihm seine Miniaturtochter an ihren Miniaturteddy klammert. "Mein Hauptthema ist das Gefühl der Verlorenheit in einer großen Stadt", sagt Slinkachu. Alle seine Figuren seien eigentlich zu klein um sie wahrzunehmen. "Wie im richtigen Leben", sagt der Künstler, "denn all die Dramen, die sich um dich herum abspielen, bekommst du nicht mit oder du ignorierst sie."

Street Art als persönliche Befreiung

ein kleines Buch auf einer Fingerspitze (09.03.2006/AP)
Dieses kleinste Buch der Welt könnten auch Slinkachus Figuren lesenBild: AP

Slinkachu hat schon als Kind gerne gebastelt. Die meisten Figürchen bezieht er von einer deutschen Firma, die Modelleisenbahnen herstellt. Dann arbeitet er sie in liebevoller Kleinarbeit um. Er malt ihnen Kaputzenpullis an, drückt ihnen eine englische Mini-Zeitung in die Hand, oder ein Mini-Schild: "Jesus rettet dich". So mancher seiner Figuren hat er sogar schon ein Bein ausgerissen oder sie mit Blut beschmiert. Und die Genauigkeit zahlt sich aus, denn viele der Galerie-Besucher können sich mindestens mit einem seiner Werke identifizieren.

Slinkachus Spielwiese ist der urbane Asphalt. "Ich liebe es, die Leute zu überraschen und Kunst dort zu verstecken, wo man sie am wenigsten erwartet", sagt der studierte Designer, der schon einige Jahre in der Werbebranche auf dem Buckel hat. Den Sprung in die ‚Street Art‘ empfindet er heute als Riesenbefreiung. Keineswegs schlimm ist es da, dass viele seiner Figürchen nie entdeckt werden. Und manche sogar achtlos zertrampelt werden. Das kalkuliert Slinkachu bereits ein und hat jedes seiner Werke auf Doppelfotos festgehalten - einmal aus der Ferne, und einmal in Nahaufnahme. Die Aufnahmen stellt er ins Internet. Auf diese Weise ist er bekannt geworden. Inzwischen sind auch seine Originalfotos äußerst begehrt. Zwischen 500 und 2500 englische Pfund sollen Liebhaber bereits dafür ausgeben.

Früher gab es Rettungsaktionen, heute Gelassenheit

Roter Bus in London mit vielen Menschen (28.08.2003/AP)
Die Menschen sollen das Leben in der Großstadt neu entdeckenBild: AP

Immer wieder muss sich Slinkachu den Vorwurf gefallen lassen, er agiere herzlos, die kleinen Menschen einfach schutzlos in der großen Welt auszusetzen. Diese Vorwürfe nimmt er heute auf die leichte Schulter. Früher hat er sie ab und zu wieder ‚gerettet’ – heute bemüht er sich um künsterlischen Abstand und sieht den Verlust der kleinen Mini-Kunstwerke gelassen. Es müssen genug verloren gehen, damit Menschen noch über sie zufällig stolpern können.