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Jörg Magenau: "Einen Bestseller-Code gibt es nicht"

Jochen Kürten
1. April 2018

Was macht einen Bestseller aus? Und was wird in Deutschland gern gekauft - und gelesen? Im Bücherfrühjahr gibt der Literaturkritiker Jörg Magenau im DW-Gespräch Antworten auf die Frage, ob es ein Rezept für Erfolg gibt.

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DW Stories Frankfurter Buchmesse 2017 Gastland Frankreich
Bild: DW/K. Schenk

Deutsche Welle: Verfolgen Sie eigentlich regelmäßig die Bestseller-Listen?

Jörg Magenau: Ja doch, sehr regelmäßig! Zunächst einmal aus beruflichen Gründen. Es ist ja schon wichtig zu wissen, welche Bücher tatsächlich laufen. Aber auch ganz persönlich interessiert mich das. Das ist auch eine sportive Neugier, so wie ich mir auch Bundesliga-Tabellen angucke. Man interessiert sich ja generell für Rankings, für Ordnungssysteme, wer wird wo eingereiht wird...

…also auch ein bisschen "Lust an der Liste"?

Ja, die Lust an der Liste! Es ist ja auch die Lust, zu wissen, welche Themen sind gerade virulent. Und da kann man auch immer einiges ablesen an der Bestsellerliste.

…das beschreiben sie ja auch in ihrem Buch, dass Bestseller gesellschaftliche Befindlichkeiten widerspiegeln. Wenn man jetzt mal auf die Bestsellerlisten der letzten ein, zwei Jahre schaut, was spiegeln die wider?

Natürlich vor allem den Groß-Trend zu Naturbüchern, sowohl bei der Belletristik als auch beim Sachbuch. "Die Geschichte der Bienen" von Maja Lunde war ja ein großer Besteller mit mehreren Kapiteln, die vom Bienensterben erzählen, Peter Wohlleben mit seinem Waldbuch, mit seinen Naturgeheimnissen. Ich würde auch die Gesundheitsbücher von Eckart von Hirschhausen und auch das Buch von Giulia Enders, "Darm mit Charme", dazu nehmen, Bücher, die den Menschen auch als Naturwesen beschreiben und begreifen. Das ist der gesellschaftliche Groß-Trend seit 15, 20 Jahren, dass wir immer mehr versuchen, uns die Welt naturwissenschaftlich zu erklären. Vielleicht wollen wir auch ein bisschen zur Erholung, wie im Urlaub, nicht dauernd mit Politik und anderen Schrecknissen malträtiert werden.

Buchcover Maja Lunde Die Geschichte der Bienen

Ein wenig hat dieser Trend das Interesse am historischem, am zeitgeschichtlichen abgelöst? Warum ist das so?

Ich glaube, das hat etwas mit dem Epochenwechsel von 1989 zu tun. Dass man grundsätzlich weniger an Fortschritt und an von Menschen gemachte Geschichte glaubt, eher an natürliche Prozesse, an längerfristige Veränderungen, die wichtig sind. Das hat dann zu so einer "Generalumschaltung des Denkens" geführt, zu anderen Perspektiven. Das drückt sich dann aus in solchen Naturbüchern, wie denen von Peter Wohlleben.

Andererseits spielt natürlich, wenn man sich für die Natur interessiert, das Verschwinden, das Bedrohte, also der ökologische Aspekt, eine große Rolle. Bücher, die zu Bestsellern werden, handeln sehr häufig vom Verschwinden, von etwas, was wir vermissen, oder auch von etwas, wovor wir uns fürchten: Man trauert etwas hinterher. Natur ist etwas, was ins Wanken gerät. Obwohl es im Grunde ja schon keine Natur mehr gibt: Es ist eine immer schon zivilisierte und agrikulturell durchgearbeitete Landschaft. Natur haben wir noch in Büchern, und da kümmern wir uns dann umso intensiver drum, weil es sie in Wirklichkeit gar nicht mehr gibt.

Ein paar Stufen drunter, wenn man sich den globalen Aspekt wegdenkt, sind es die Ratgeber, die sich ganz direkt an den Menschen wenden und auch oft den Sprung in die Bestsellerlisten schaffen...

Das ist aber ein zeitloses Phänomen. Die Ratgeber werden ja auch auf manchen Bestsellerlisten separat geführt, weil sie ein Genre für sich sind. Sie sprechen grundsätzlich immer die Sorgen der Menschen an: Die Sorgen um das gute Leben, um die Gesundheit, um das richtige Zusammenleben, in welcher Kombination auch immer.

Die "Mutter aller Ratgeber" war Dale Carnegie mit "Sorge dich nicht - Lebe!". Da drückt eigentlich schon der Titel aus, was alle Ratgeber tun: Die Sorgen möglichst klein halten und eine pragmatische Lebenshilfe bieten. Carnegie ist deshalb auch ein interessanter Fall, weil das Buch aus den 1940er Jahren stammt. In Deutschland ist es nach dem 2. Weltkrieg erschienen, aber zum wirklichen Mega-Longseller wurde es in den 1980er/90er Jahren. Das hat sich über Jahrzehnte entwickelt, bis es dann tatsächlich in die Zeit passte, in die 90er Jahre, mit Themen wie Börsenboom, Neuer Markt, Ostdeutsche, die versuchen, sich im Kapitalismus einzuüben. Wie die dann auf die Tugenden eines relativ rohen amerikanischen Fernsehpredigertums aus den 40er Jahren zurückgriffen und in die Gegenwart übertrugen, das ist ein interessantes Phänomen. Bestsellerlisten spiegeln so etwas wider.

Buchmesse Leipzig - Jörg Magenau
Jörg MagenauBild: picture-alliance/dpa/J. Kalaene

Schauen wir mal auf die literarischen Bestseller, die Belletristik. Sie behandeln in Ihrem Buch ja die Zeit nach 1945. Sie schreiben über Patrick Süskinds "Das Parfum", nennen Bernhard  Schlinks "Der Vorleser", Autoren wie Daniel Kehlmann und Uwe Tellkamp. Gibt es überhaupt etwas Übergeordnetes: Warum schaffen es bestimmte Romane aus Deutschland auf deutsche Bestsellerlisten?

Das kann man eigentlich nicht sagen, dass es etwas Übergeordnetes gibt. Bei Sachbüchern sind ja die Themen mehr im Vordergrund, da kann man dann eher die aktuellen Stimmungen ablesen.

Wenn man auf die aktuelle Beststellerliste guckt, auf Daniel Kehlmanns Roman "Tyll", der im Dreißigjährigen Krieg spielt, ist es aber wahrscheinlich kein Zufall. Es ist ja nicht nur, dass wir jetzt 400 Jahre Dreißigjährigen Krieg haben, sondern der Roman gibt die Möglichkeit, sich mit der Gegenwart in dieser Zeit wiederzuerkennen. "Tyll" beschreibt ja auch eine Zeit des Zerfalls, der Wertesysteme, der Ordnung überhaupt. Dass man eigentlich gar nicht mehr weiß, wer gegen wen kämpft. Kehlmann hat in einem Interview gesagt, dass ihn die Lage in Syrien sehr an die europäische Lage vor 400 Jahren erinnert und das Buch diesem Weltgefühl entspricht.

Was könnte es noch für Gründe dafür geben, dass ein Roman ein Bestseller wird?

Literarische Bücher sind generell natürlich nicht so themenorientiert. Wenn es da irgendwelche Muster gibt, die Bestseller zu Bestseller machen, sind mir zwei aufgefallen. Häufig sind es Bücher, in denen Leser vorkommen, "Der Vorleser" von Schlink ist natürlich das beliebteste Beispiel dafür. Dass im Buch selber gelesen wird, dass das Lesen nochmal gespiegelt wird, dass man sich als Leser wiederfindet, das ist offenbar ein Angebot, dass sehr viele Leser anspricht.

Buchcover Bestseller von Jörg Magenau

Das zweite ist, dass in den Romanen oft Helden auftauchen, mit denen man sich insofern identifizieren kann, dass sie eigentlich ganz normal sind, aber irgendeinen Makel haben, eine Schwäche. So wie Grenouille in "Das Parfüm", der ist buckelig, kommt aus armen Verhältnissen. Oder wie Oskar Matzerath in "Die Blechtrommel" von Günter Grass, der zu wachsen aufhört. Das sind literarische Figuren, die aus einer Beschränkung heraus ganz außerordentliche Fähigkeiten entwickeln. Das ist ein Identifikationsangebot, wo ganz viele Leute aus einem Grundgefühl heraus mitgehen können, im Sinne von: Ich bin auch irgendwie beschränkt im Dasein, aber vielleicht schaffe ich es auch auf meine Weise, mich in der Welt zu Recht zu finden und was Großes zu leisten.

Sie schreiben ja auch über einen Bestseller-Code, denn es ja gar nicht geben kann, obwohl manch ein Experte versucht hat, ihn zu entschlüsseln. Aber dann könnte man ja nach Anleitung Bestseller auf den Markt bringen...

Manche werden ja auch ganz einfach hergestellt. Für die habe ich mich aber nicht interessiert, für die internationale Bestseller-Manufaktur-Ware, die über Jahrzehnte immer Gleiches produziert, ob das jetzt ein John Grisham ist oder wer auch immer. Es kann auch deshalb nicht funktionieren, weil sich der Erfolg eines Buches nicht allein aus dem Buch selbst erklärt, sondern immer auch eine Stimmungslage da sein muss. Das Buch braucht eine Gesellschaft, die das Buch hält, einen aktuellen Zeitpunkt, eine Debatten-Kultur drumherum, Themen, an die es anknüpfen kann, die virulent sind.

Das lässt sich auch nicht planen, weil ein Buch oft zwei, drei Jahre, bevor es erscheint, schon im Verlagskatalog entworfen wird. Es ist auch nicht planbar, weil man auch nicht von einem Land auf ein anderes schließen kann. Deshalb klappt es auch nicht mit internationalen Bestsellern, oder nur selten. In jedem Land gibt es einen eigenen Debatten-Zusammenhang, eine eigene Stimmungslage. Nationale Besteller funktionieren eher wie Fieberthermometer, wo man messen kann, wo drückt es gerade, wo sind die Punkte in einer Gesellschaft, wo Ärger, wo Wut, wo Zorn, wo Sorgen, wo Sehnsüchte und Ängste.

Das Gespräch führte Jochen Kürten

Jörg Magenau: Bestseller, Hoffmann und Campe, 288 Seiten, ISBN 978-3-455-50379-1.