1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Eurocamp auf dem platten Land

Bernd Riegert18. August 2012

Überall ist Krise in Europa! Überall? Nein, in einem kleinen Dorf in Sachsen-Anhalt denken Jugendliche nicht unbedingt an Schulden und Scheitern. Ortstermin im Eurocamp.

https://p.dw.com/p/15qff
Jugendliche im Eurocamp (Foto:DW)
Bildergalerie EurocampBild: DW/B. Riegert

Kretzschau hat einen verfallenen Bahnhof, zwei große beige-farbene Plattenbauten und einen Döner-Imbiss zu bieten, einige Wochenendhäuschen am Angelsee und die Jugendherberge am Waldrand. In Kretzschau ist es ruhig. Die Jugendherberge besteht aus weißen Holzbaracken, in Reih und Glied an der holprigen Lagerstraße. Trotz renovierter Mehrbett-Zimmer kann die Jugendherberge ihre Vergangenheit als DDR-Ferienlager nicht verleugnen. Der Internetzugang ist hier technisch schwierig. Fernseher gibt es keine. Die Handy-Netze haben große Löcher. Es gibt also wenig Ablenkung. Gute Voraussetzungen für konzentriertes Arbeiten und Nachdenken.

Diesen äußerst ruhigen Flecken von Sachsen-Anhalt hat die "Auslandsgesellschaft" in diesem Jahr für das traditionelle "Eurocamp" ausgesucht. Drei Wochen lang tauschen fast 70 Jugendliche aus 30 Ländern Europas ihre Vorstellungen zur Zukunft des Kontinents aus. Es werden kurze Filme gedreht, Deklarationen verfasst, Diskussionen und Vorträge organisiert. In der nahe gelegenen Kleinstadt Zeitz arbeiten die jungen Leute an der Verschönerung von Schulgebäuden und öffentlichen Gärten. Gemeinsames Arbeiten gehört mit zum Eurocamp. Jeden Tag fünf Stunden. Aufstehen um sieben Uhr. Dafür ist die Teilnahme am Camp umsonst.

Wegweiser zum Eurocamp im Wald bei der Jugendherberge Kretschau, Sachsen-Anhalt; aufgenommen in Zeitz am 14.08.2012; Copyright: DW/B. Riegert***ACHTUNG: Das Bild darf ausschließlich im Rahmen einer Berichterstattung (über Eurocamp) genutzt werden***
Mitten im Nirgendwo: Eurocamp 2012Bild: DW/B. Riegert

Krise geht vorbei

"Europäer zu sein heißt, sich auf verschiedene Leute einzulassen. Wie eine Familie, das ist ein Klischee, aber trotzdem stimmt es", sagt Elisa Ristoja über die Stimmung im Eurocamp. Die 20-Jährige stammt aus Finnland. "Andere Kulturen und Ansichten muss ich akzeptieren, weil die Leute eben anders denken. Es ist zwar kompliziert mit so vielen Ländern, aber natürlich möchte ich, dass alle mitmachen." Dieser Glauben an Europa wird für die Studentin durch die aktuelle Schulden- und Eurokrise nicht erschüttert. Ob Spanier, Niederländer, Russen oder Griechen: Alle Jugendlichen im Camp sind fest davon überzeugt, dass die Krise nur eine vorübergehende Störung ist.

"In zehn Jahren wird die EU stabil sein und sie wird an der Krise nicht zerbrechen", sagt die Russin Guzel Navikova, die Germanistik in ihrer Heimstadt Kasan studiert. "Es wird einige Reformen geben, aber wir werden uns all das Gute, das die EU uns gebracht hat, erhalten", meint die Österreicherin Kristine Baumgartner resolut. Europa ohne Integration, offene Grenzen und kulturellen Austausch kann sich in Kretzschau keiner vorstellen. Die Studenten, die alle um die 20 Jahre alt sind, kennen schließlich nur das vereinte Europa.

Badesee an der Jugendherberge Kretschau, wo die Veranstaltung Eurocamp stattfindet; aufgenommen in Zeitz am 14.08.2012; Copyright: DW/B. Riegert***ACHTUNG: Das Bild darf ausschließlich im Rahmen einer Berichterstattung (über Eurocamp) genutzt werden***
Nachdenken und Erholen: Badesee in KretzschauBild: DW/B. Riegert

Maria Nika kommt aus dem Epizentrum der Krise, aus Athen in Griechenland. Bevor sie ins Eurocamp kam, befürchtete sie, die anderen würden über die "arme" Griechin lästern. "Also, ich kann das Gerede von der Krise nicht mehr hören. Hier spielt das keine große Rolle. Man trifft ganz normale Leute und sieht, was die für Dinge aus ihren Ländern erzählen. Wir wollen Spaß haben und lassen die Krise Krise sein."

Mehr als über die Schuldenkrise wird über die Erweiterung der EU, also die Aufnahme neuer Mitgliedsstaaten auf dem Balkan oder in Osteuropa, diskutiert. Die meisten Jugendlichen seien dafür, aber es gebe Bedingungen, sagt der serbische Student Nemanja Dojokovic. Noch seien die Staaten des Balkans nicht stabil genug für einen Beitritt. "Heutzutage ist es sehr schwer, über eine Stabilität auf dem Balkan zu reden, weil wir ehemaliges Jugoslawien waren, und jetzt ist alles zersplittert. Es gibt Probleme mit den Identiäten und auch mit dem Kosovo. Man sollte zuerst dieses Problem lösen. Und dann kommt der Beitritt zur EU."

Tanz, Märchen, Pioniere

Der Spaß kommt nicht zu kurz. Etwas hochtrabender könnte man ihn interkulturellen Dialog nennen. In der sommerlich lauen "Kulturnacht" zeigen die Jugendlichen in ausgelassenen Darbietungen Eigenheiten ihrer Heimatländer. Österreich und Ungarn bieten eine Cszardas-Tanzschule, Spanien und Portugal eine Quizshow. Weißrussland, Russland und Moldawien führen das Märchen vom Großvater, der eine Rübe aus der Erde ziehen wollte, auf. Kultur wird hier selbst gemacht. Wie gesagt: Kein Fernsehen, kein Internet.

Jugendliche aus den ehemaligen jugoslawischen Republiken führen eine Satire über frühere kommunistische Pionierlager auf; Lagerfest Eurocamp, Jugendherberger Kretschau; aufgenommen in Zeitz am 14.08.2012; Copyright: DW/B. Riegert***ACHTUNG: Das Bild darf ausschließlich im Rahmen einer Berichterstattung (über Eurocamp) genutzt werden***
Ehemalige Pioniere: Jugendliche aus Ex-Jugoslawien machen sich über die Tito-Ära lustigBild: DW/B. Riegert

Besonderen Erfolg haben die ehemaligen Republiken Jugoslawiens. Slowenen, Bosnier, Serben, Mazedonier veräppeln mit einer Parodie auf die kommunistischen Pioniere das untergegangene Jugoslawien. Sie singen Pionierlieder, die sie nur noch von ihren Eltern kennen.

Selber aktiv werden

Einig sind sich die Jugendlichen aus 30 Ländern darüber, dass der Austausch von Studenten und Berufsabsolventen in Europa weiter verstärkt werden muss. Kultur, Bildung, Austausch ohne Grenzen, heißt die knappe Forderung. Themen wie die Nutzung der Atomkraft oder das Urheberrecht im Internet sind viel größere Aufreger als etwa Eurobonds oder Schuldentilgungsfonds.

Seminarleiter Wolfgang Meyer stellt den Tagesplan für das Jugendlager Eurocamp auf; aufgenommen in Zeitz am 14.08.2012; Copyright: DW/B. Riegert***ACHTUNG: Das Bild darf ausschließlich im Rahmen einer Berichterstattung (über Eurocamp) genutzt werden***
Planen und anregen: Camp-Leiter Wolfgang MeyerBild: DW/B. Riegert

Wolfgang Meyer organisiert seit fast 20 Jahren die Eurocamps, damit junge Menschen sich austauschen und ihre Identitäten kennenlernen können. "Wir wollen die Jugendlichen motivieren, selber aktiv zu sein, dass es ihr Europa ist, dass sie es gestalten und nicht erwarten, dass dies Politiker oder wir älteren Menschen für sie noch tun. Und, was mir noch ganz wichtig ist, dass die Jugendlichen das als eine Art Kontaktbörse für ihr späteres Leben betrachten", so der Erlebnispädagoge.

Mehr Europa

Rund 500 ehemalige Eurocamper halten über das Internet noch Kontakt zueinander. Wolfgang Meyer wünscht sich, dass irgendwann ein richtiges Netzwerk entsteht. Viele der Ehemaligen stehen heute im Berufsleben und haben irgendetwas mit Europa zu tun, sagt er. Kontakte zu knüpfen war der Hauptgrund für den 22-jährigen Spanier Victor Manuel Urquiza Uriba, den weiten Weg nach Kretzschau zu machen. "Das ist schon einmalig hier, so ruhig", sagt der Sprachlehrer mit einem Augenzwinkern. Wegen der Krise im eigenen Land wird er bald in Frankreich arbeiten. "Mit der Zeit wird die Krise gehen, ich bin Optimist", erzählt Victor. "Wir brauchen mehr Europa, nicht weniger Europa." Aus seinem Mund klingt das irgendwie glaubhafter, als wenn europäische Politiker den Slogan gebrauchen. 

Die Ergebnisse ihrer Diskussionen haben die Jugendlichen auch der Landesregierung von Sachsen-Anhalt mit auf den Weg gegeben, die das Camp in Kretzschau organisiert. Burkhart Fieber aus der Staatskanzlei hörte sich einen Nachmittag lang die Vorschläge der Studenten an und versteht ihr Verlangen nach mehr Austauschangeboten. "Von diesen Camps könnte es eigentlich noch mehr geben", so Fieber.