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Gesellschaft

MeToo-Kampagne im Iran

Shabnam von Hein
17. September 2020

Im Iran melden sich immer mehr Frauen zu Wort, die Opfer sexueller Gewalt durch einflussreiche und angeblich "progressive" Männer geworden sind. Und sie nennen die Täter- ein bis vor kurzem undenkbarer Vorgang.

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Iran Frauen protestieren gegen Kopftuchzwang
(Archiv) Frauen im Iran protestierten gegen KopftuchzwangBild: picture-alliance/abaca/SalamPix

Angefangen hat alles mit dem persischen Hashtag "Nein heißt Nein". Mit ihm reagierten iranische Frauen auf einen Tweet, der im August von einem anonymen Nutzer gepostet wurde. Der Tweet erklärte iranischen Männern, wie sie sich rechtfertigen sollen, wenn sie eine Frau gegen ihren Willen beim ersten Date küssen: "Behauptet einfach, ihr seid durch ihre Schönheit betäubt und wüsstet nicht mehr, was ihr tut."

Der Satz traf einen empfindlichen Nerv. Denn in der patriarchalisch geprägten iranischen Gesellschaft gilt eine vergewaltigte Frau oft als die Schuldige. Weil sie ihre Schönheit und Weiblichkeit vor den Männern nicht versteckt und sich ihnen damit indirekt angeboten hätte. Man spricht ihr jeden Anstand ab ruft sogar nach Strafe für sie. In besonders traditionell geprägten Teilen des Irans laufen vergewaltigte Frauen immer noch Gefahr, Opfer eines sogenannten Ehrenmordes durch ihre eigene Familie werden.

Dammbruch

Der anonyme Nutzer hat zwar kurz nach dem umstrittenen Tweet sein Konto deaktiviert. Aber da hatte er bereits eine heftige Gegenreaktion der iranischen Frauen ausgelöst: Sie begannen, ihre Erfahrung von sexueller Gewalt, Nötigung und Vergewaltigung in sozialen Netzwerken mitzuteilen, und die Täter zu nennen. Darunter sind namhafte Künstler, Journalisten, Professoren und sogar Frauen- und Menschenrechtsaktivisten.

Innerhalb von wenigen Tagen beschuldigten beispielsweise mehr als ein Dutzend Frauen einen in Teheraner Künstlerkreisen bekannten Buchhändler, sie vergewaltigt zu haben. Fataneh war eine von ihnen. Im Gespräch mit der DW erzählt sie: "Vor zwei Jahren lud er mich zu sich ein. Wir kannten uns seit einer Weile. Zuhause hat er mir ein Glas von seinem selbstgemachten Wein angeboten und bestand darauf, dass ich ihn probieren soll. Der Wein schmeckte seltsam und machte mich sofort benommen. Ich erinnere mich nur noch, dass ich ihm mehrfach gesagt habe, mich loszulassen und dass ich keinen Sex mit ihm haben möchte."

Die Frauenaktivistin Fataneh ist seit Jahren im Bereich Gewalt gegen Frauen aktiv. Ihren Vergewaltiger zeigte sie trotzdem nicht an, aus Angst, bei der Polizei in Erklärungsnot zu geraten, wenn dort gefragt wird: 'Warum haben Sie einen fremden Mann besucht? Was für ein Verhältnis hatten Sie vorher mit ihm?' Oder noch schlimmer: 'Seit wann trinken Sie Alkohol?' All das ist in der Islamischen Republik Iran verboten.

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Shirin Ebadi: "Wenn eine Frau freiwillig einen Mann zu Hause besucht und vergewaltigt wird, ist sie laut iranischem Gesetz mitschuldig"Bild: picture-alliance/Zumapress/LaPresse/M. B. Touati

Im Iran ist die Frau mitschuldig

"Wenn eine Frau freiwillig einen Mann zu Hause besucht und vergewaltigt wird, ist sie laut iranischem Gesetz mitschuldig", sagt die iranische Anwältin Shirin Ebadi im Gespräch mit der DW. "Die Frau wird normalerweise ausgepeitscht und muss mit einer Geldstrafe rechnen, weil sie eine Beziehung mit einem fremden Mann hatte, die außerhalb der angegebenen Grenzen im islamischen Republik Iran liegt."

Ein trauriges Beispiel dafür ist der Fall von Sahra Navidpour, einer jungen Frau, die von einem einflussreichen Abgeordneten vergewaltigt wurde. Sahra Navidpour war auf Jobsuche, als sie 2018 den damaligen Abgeordneten Salman Chodadadi in seinem Büro besuchte und dort von ihm vergewaltigt wurde. Ihre Versuche, den Angriff publik zu machen und ihren Peiniger vor Gericht zu bringen, blieben erfolglos. Ein paar Monate später nahm sie sich das Leben. Chodadadi wurde im August 2020 vom Obersten Gerichtshof vom Vorwurf der Vergewaltigung freigesprochen. Sahra Navidpour hätte ihn freiwillig besucht. Allerdings wurde er wegen einer "illegitimen Affäre" zu 99 Peitschenhieben verurteilt und mit einem zweijährigen Berufsverbot im Staatsdienst belegt.

Am Wendepunkt

Die iranische "Me-Too-Kampagne" ermutigte jetzt auch Fataneh, sich zu Wort zu melden. Sie hatte gelesen, wie viele andere Frauen von demselben Kunstbuchhändler vergewaltigt wurden, genau wie sie. Diese Frauen konnten viele Details von seiner Küche und seinem Wohnzimmer schildern und private Nachrichten veröffentlichen, die er ihnen vor oder nach der Vergewaltigung  geschickt hatte. Nachdem die Medien im Iran das Thema aufgegriffen und darüber berichtet hatten, wurde er verhaftet. Hossein Rahimi, der Teheraner Polizeichef, sagte Anfang September vor der Presse, der Beschuldigte habe alles gestanden und behaupte, unter schweren psychischen Problemen zu leiden.

"Ich werde gegen ihn vor Gericht ziehen", sagt Fataneh. "Obwohl ich wenig Hoffnung habe, dass er am Ende eine gerechte Strafe bekommt. Aber ich sehe uns an einem Wendepunkt. Wir haben uns an die Öffentlichkeit gewandt und legen die Identität unserer Peiniger offen."

Zivilgesellschaft reagiert

Bislang weisen die anderen von den Frauen beschuldigten Männer die Vorwürfe kategorisch zurück. Sie wollen juristisch dagegen vorgehen. Allerdings bieten iranische Anwältinnen den Frauen ihre Unterstützung an.  Journalistinnen und Aktivistinnen fangen an, die Anschuldigungen im Netz zu sammeln und zu archivieren. So zum Beispiel wurden Aussagen von Frauen gesammelt und veröffentlicht, die einem bekannten Forscher Vergewaltigung und Machtmissbrauch vorwerfen. Das Besondere an dem Fall: Der beschuldigte Anthropologe forscht über die Beschneidung von Frauen im Iran und setzt sich für Aufklärung und Frauenrechte ein. Die Anschuldigungen gegen ihn sind so schwerwiegend, dass die "Iranian Sociological Association" seine Mitgliedschaft in diesem Verein bis auf weiteres suspendiert hat.

 

Mitarbeit: Maryam Mirza