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Politik

Indiens Kampf gegen das Coronavirus

Murali Krishnan | Ankita Mukhopadhyay
28. März 2020

Die Corona-Pandemie stellt Indien vor eine enorme Herausforderung – angesichts von 1,3 Milliarden Einwohnern und einem unterfinanzierten Gesundheitssystem. Eine landesweite Ausgangssperre soll das Virus aufhalten.

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Wanderarbeiter, hier im ostindischen Haora, treffen die Maßnahmen besonders hart
Wanderarbeiter, hier im ostindischen Haora, treffen die Maßnahmen besonders hartBild: Reuters/R. De Chowdhuri

"Unser heutiges Handeln wird darüber entscheiden, inwieweit es uns gelingt, die Auswirkungen dieser Katastrophe zu minimieren", betonte Indiens Premierminister Narendra Modi in einer Fernsehansprache, in der er die Gründe für die verhängte landesweite Ausgangssperre erläuterte. Für 21 Tage, bis Mitte April, steht die Bevölkerung praktisch unter Hausarrest. Auf diese Weise hofft die Regierung, eine weitere Ausbreitung des neuartigen Coronavirus stoppen zu können. Die Angst ist groß, dass das Land mit seinen 1,3 Milliarden Menschen vor einer massiven Infektionswelle steht.

Rätselraten um das Ausmaß der Ausbreitung

Seit Anfang der Woche hat sich die Zahl der registrierten Corona-Infektionen fast verdoppelt. Am Donnerstag meldete die Johns Hopkins University, die die Corona-Fallzahlen weltweit dokumentiert, fast 800 Infizierte und 20 Todesfälle. Kenner des öffentlichen Gesundheitswesens fürchten, dass die vom Gesundheitsministerium gemeldeten Zahlen nicht das tatsächliche Ausmaß der Ansteckungen widerspiegeln. "Die Infektion steht kurz vor der Explosion. Die offiziellen Zahlen, die bekannt gegeben werden, sind nur die Spitze des Eisbergs", sagt etwa Arvind Kumar, Lungenchirurg am Sir Ganga Ram Hospital in Neu Delhi, der DW. 

Der hindunationalistische Premier Narendra Modi kündigt im Fernsehen die Ausgangssperre an
Der hindunationalistische Premier Narendra Modi kündigt im Fernsehen die Ausgangssperre anBild: picture-alliance/AP Photo/M. Swarup

Da es bereits Fälle gibt, in denen die Infizierten weder selbst im Ausland waren, noch Kontakt zu aus dem Ausland Zurückgekehrten hatten, wird vermutet, dass das Virus längst innerhalb der Bevölkerung kursiert. Um ein Bild von der tatsächlichen Verbreitung des Coronavirus zu bekommen, müssten viel mehr Menschen mit Grippe-Symptomen getestet werden, rät T. Sundararaman, ehemaliger Direktor von Indiens National Health Systems Resource Center, einem beratenden Gremium des indischen Gesundheitsministeriums. "Auch wenn sich dann herausstellt, dass sie eine saisonale Grippe haben und nicht mit dem Coronavirus infiziert sind."

Düstere Vorhersagen von Epidemiologen

Das Gesundheitsministerium hat zwölf private COVID-19-Testlabors genehmigt. Laut einer Pressemitteilung der Regierung gibt es außerdem 15.000 Sammelstellen. Und in Deutschland seien eine Million Test-Sets bestellt worden, berichten Beamte des Indian Council of Medical Research der DW. Wie effizient das indische Testsystem in der Praxis ist, weiß allerdings noch niemand. Zudem ist die Testquote bislang niedrig. Es wird erwartet, dass die Zahl der bestätigten Infektionsfälle rapide steigt, sobald die Gesundheitsbehörden beginnen, mehr Menschen in mehr Städten zu testen.

Vor einer Apotheke in Kalkutta müssen die Wartenden in auf dem Boden markierten Kreisen stehen
Vor einer Apotheke in Kalkutta müssen die Wartenden in auf dem Boden markierten Kreisen stehenBild: Reuters/R. De Chowdhuri

Eine drastische Warnung kommt vom indischen Epidemiologen Jayaprakash Muliyil: Laut seinen Schätzungen könnten bis zu 55 Prozent der indischen Bevölkerung an COVID-19 erkranken. Andere Berechnungen, die auf Modelle aus den USA und Großbritannien zurückgreifen, deuten darauf hin, dass es bis Juli 300 Millionen Corona-Fälle in Indien geben könnte. Sollten diese düsteren Vorhersagen zutreffen, würde die Epidemie das ohnehin schon unterfinanzierte indische Gesundheitssystem überfordern.

"Das größte Problem ist die Mentalität der Menschen"

Durch die landesweiten Ausgangsbeschränkungen und Quarantänemaßnahmen soll daher die Übertragungsgeschwindigkeit verlangsam werden, um Zeit zu gewinnen - damit in den Krankenhäusern möglichst viele COVID-19-Erkrankte behandelt werden können. Im Moment benötigt Indien aber auch Zeit, um mehr Testskits und Beatmungsgeräte zu beschaffen. "Indische Krankenhäuser sind mit solchen Geräten nicht ausreichend ausgestattet", sagt Mukesh Muki. Er ist Krankenhausarzt in der südindischen Metropole Bangalore. Laut Regierungsangaben sind derzeit rund 30.000 Beatmungsgeräte in Indien vorhanden. Weitere Geräte zu beschaffen ist schwierig, weil verfügte Reisebeschränkungen auch Lieferwege treffen.

Eingang zum Corona-Testcenters eines Krankenhauses in Neu Delhi
Eingang zum Corona-Testcenters eines Krankenhauses in Neu DelhiBild: DW/A. Sharma

Neben den Versorgungsschwierigkeiten bleibt es eine Herausforderung, die Menschen dazu zu bringen, Quarantäneauflagen und Ausgangssperren einzuhalten. "Das größte Problem bei der Bekämpfung des Coronavirus ist die Mentalität der Menschen. Viele nehmen die Vorsichtsmaßnahmen und diese Pandemie einfach nicht ernst", klagt Krankenhausarzt Mukesh Muki.

Auch nach dem Inkrafttreten der Ausgangssperre am Mittwoch sieht man in ganz Indien Menschen auf Märkten, in Lebensmittelgeschäften, Apotheken und Banken. Sie bleiben geöffnet, um die Grundversorgung sicherzustellen - sind aber angehalten, Heimlieferangebote auszubauen. Zumal der öffentliche Verkehr - mit Ausnahme einiger weniger Busse auf ausgewählten Strecken - komplett eingestellt ist.

Tagelanges Warten auf das Geld

Besonders von der Ausgangssperre betroffen sind die Tagelöhner. Viele werden ihre Arbeit verlieren. Die Regierung hat zwar zu "proaktive Maßnahmen" aufgerufen, um die Arbeiter zu schützen und auch staatliche Hilfen zugesagt. Doch viele Arbeiter wissen momentan nicht, wann sie Geld bekommen werden. "Ich weiß nicht, was ich tun soll. Meine Familie wartet seit drei Tagen darauf, dass ich nach Hause komme. Aber ich habe keine Wahl, ohne Geld muss ich hierbleiben", sagt Rajeev Paswan, ein Bauarbeiter in Lucknow, einer Stadt ungefähr 500 Kilometer östlich von Neu Dehli. Die massenhafte Rückkehr von Tagelöhnern aus den Städten zurück aufs Land birgt zudem ein großes Risiko, denn viele der Heimkehrer sind möglicherweise unwissentlich bereits mit dem Coronavirus infiziert.

"Das Bewusstsein für die Corona-Pandemie ist in der Bevölkerung unterschiedlich stark ausgeprägt", meint Prashant Kashyap, Chefredakteur der auflagenstarken Zeitung "Dainik Jagran". "Während ein Teil um die Risiken weiß und Vorsichtsmaßnahmen trifft, ist sich die Mehrheit der Menschen der Gefahr noch immer nicht bewusst." In den Dörfern sei es zudem schwierig, der Bevölkerung zu verbieten, ihre Häuser zu verlassen. "Es ist Erntezeit. Ein Bauer arbeitet anders als ein leitender Angestellter. Er kann seine Arbeit nicht in geschlossenen Räumen verrichten", macht Kashyap deutlich. Die Übertragung des Virus innerhalb der Bevölkerung sei unvermeidbar. "Und gerade die medizinische Infrastruktur auf dem Land ist darauf absolut nicht vorbereitet." 

Er wisse nichts über die Symptome des Corona-Virus und auch nichts darüber, wie es übertragen werde, sagt Baldev Rai, Ladenbesitzer und Tee-Verkäufer in Gurugram, einem Vorort von Neu-Delhi, der DW: "Ich möchte einfach nur zurück - aufs Land in meine Heimatstadt."