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Gesellschaft

Das Fest der Anti-Konservativen in Rio

Thomas Milz aus Rio de Janeiro
2. März 2019

Der Wahlkampf hat Brasilien stark gespalten. Die konservative Rhetorik des rechtspopulistischen Präsidenten Jair Bolsonaro hat die Gräben weiter vertieft. Der Karneval wird deshalb dieses Jahr besonders politisch.

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Jair Bolsonaro Maske Brasilien Karneval
Bild: Reuters/N. Doce

"Geschichten um große Leute einzuschläfern", heißt das Spektakel, das die Samba-Schule Mangueira dieses Jahr in der Sambódromo-Arena von Rio de Janeiro zeigen wird. Dahinter verbirgt sich gesellschaftlicher Zündstoff: Man will den "inoffiziellen Teil" der brasilianischen Geschichte erzählen, nämlich den der Indigenen, Armen und der schwarzen Frauen. Es ginge um die Bevölkerungsteile, die in der von weißen Männern dominierten Gesellschaft stets gewaltsam unterdrückt oder gar ausradiert wurden, so der künstlerische Leiter der Mangueira, Leandro Vieira.

Dieses Jahr wird dabei tief in die Tabu-Kiste gegriffen: Brutale Szenen sollen an die dreihundert Jahre tobende Sklaverei erinnern. Die erste Trans-Samba-Königin soll dagegen wohl eher die konservativen Moralapostel schocken. "In der aktuellen politischen Atmosphäre ist das notwendig", meint Vieira, der als grandioser Provokateur in der brasilianischen Karnevalszene angesehen wird. Angesichts der Machtübernahme der Konservativen wolle man zur kritischen Auseinandersetzung mit der brasilianischen Geschichte anregen, sagt er. Nach Jahren linker, progressiver Regierungen hatten Bolsonaros Parolen für Recht, Ordnung und Tradition die Wähler im Oktober überzeugt.

Als offene Kritik an Bolsonaro, der durch seine frauenfeindlichen, rassistischen und homophoben Ausfälle eine zweifelhafte Berühmtheit erlangte, sei der Umzug aber nicht zu verstehen. "Das wäre zu propagandistisch." Man setze aber die Tradition der in einem Armenviertel gegründeten Mangueira fort, den Konservatismus anzuklagen. Sprich: die Kräfte, die stets unterdrückten. Als populär-kulturelle Karnevalsgruppe mit meist armen und schwarzen Mitgliedern könne man deshalb keine konservativen Positionen haben, stellt Vieira klar.

Hierarchien auf den Kopf stellen

Ein Dorn im Auge der Konservativen war auch die vor einem Jahr ermordete schwarze Stadträtin Marielle Franco. Jetzt ehrt die Mangueira die linke LGBT-Aktivistin mit ihrem Umzug. Angesichts der brutalen Realität eine notwendige Manifestation, so die Journalistin und schwarze Aktivistin Flávia Oliveira gegenüber der DW. "Die Gewalt gegen Frauen, gegen die LGBTs, gegen die afro-brasilianischen Religionen und gegen Schwarze überhaupt hat in den letzten Jahren generell zugenommen. Angesichts der konservativen Welle mit ihrem moralisch-religiösen Diskurs wohl kein Zufall", so die Aktivistin. 

Marielle Franco
Die ermordete linke LGBT-Aktivistin Marielle Franco wird auch im Karneval geehrtBild: picture-alliance/AP/

Im Karneval wurden stets Hierarchien auf den Kopf gestellt - Favela-Mädchen verwandelten sich für eine Nacht zu Königinnen. "Unsere Defekte, unserer Rückständigkeit und unsere Vorurteile wurden im Karneval stets humorvoll dargestellt, obwohl sich dahinter eine ernste Sozialkritik verbarg", so Oliveira. Die Gesellschaftskritik blieb bei den großen Umzügen im Sambódromo dabei meist recht subtil. Auch weil die Schulen auf öffentliche Gelder angewiesen waren, so der Samba-Chronist und Journalist Aydano André Motta gegenüber der DW.

Bei den Gruppen des Straßenkarnevals, die ohne den teuren Kostümwahn und die Prunkwagen der Samba-Schulen auskommen, sei es dagegen meist hochpolitisch zugegangen. "Viele sind aus dem Widerstand gegen die Diktatur (1964-85) entstanden und haben seitdem die Politik in ihrer DNA." Doch jetzt ziehe die explizite Gesellschaftskritik auch in das mit Touristen gefüllte Sambódromo ein. Die zunehmende Politisierung habe sich bereits 2018 angekündigt, als die Hälfte der Schulen ein politisches Thema präsentierten, so Motta. "Auch deshalb, weil sich die Samba-Gruppen zunehmend alleine gelassen fühlen."

Karneval als Teufelszeug

Denn Bürgermeister Marcelo Crivella streicht dem Karneval derzeit die öffentlichen Gelder zusammen. Crivella, ein evangelikaler Bischof und Neffe des Universal-Kirchen-Gründers Edir Macedo, mag Kulturveranstaltungen mit afrikanischen Wurzeln generell nicht besonders. Der Karneval steht für ihn sogar im Verdacht, wahres Teufelszeug zu sein. Angesichts der Anfeindungen radikalisieren sich nun auch die Samba-Schulen.

Karneval in Rio de Janeiro 2018
Schon 2018 war Bürgermeister Marcelo Crivella ein beliebtes Motiv der Karnevalisten Bild: picture alliance/AP/S. Izquierdo

"Der Welt des Karnevals ist klar geworden, dass die gewählten Vertreter wenig Interesse am Fortbestehen des Karnevals haben", glaubt Motta. Und nicht nur die. In Rio möge die Mehrheit der Bevölkerung keinen Karneval, die Eliten würden das chaotische Spektakel am liebsten sogar ganz verbieten. Offen gegen den Touristenmagnet Karneval wettern wolle jedoch kaum jemand. Lieber beschwere man sich über die Kollateralschäden der jecken Zeit: die voll gepinkelten Straßen und der chaotische Verkehr. Recht und Ordnung sehen natürlich anders aus.

"Wir spüren, dass es überall plötzlich gewaltsamer geworden ist", sagt auch Beth Beli, Gründerin der schwarzen Trommlergruppe "Ilú Obá De Min", übersetzt die "Frauenhände, die für den afrikanischen Gott Xangô trommeln". Bei ihren Proben auf öffentlichen Plätzen in der traditionell besonders konservativen Metropole São Paulo komme es immer häufiger zu Anfeindungen durch die Polizei, die die Künstler für Störenfriede halten. "Dieses Jahr werden wir deshalb einen hochpolitischen Karneval machen", so Beli gegenüber der DW. "Wir müssen den Karneval nutzen, um über diese Entwicklungen zu sprechen."

So will man die alten Manifeste der vor 40 Jahren gegründeten Black-Power-Bewegung "Movimento Negro Unificado" öffentlich vorlesen. "Dann sehe die Leute, dass sich in all den Jahren nichts geändert hat", so die Künstlerin Beli. "Und jetzt haben wir zudem auch noch einen Präsidenten, der offen ein Rassist und ein Homophober."