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Földényi: "Von einem Gefühl des Bedauerns umgeben"

Zsolt Bogár
23. Juni 2021

Der ungarische Essayist László Földényi ist Träger des Leipziger Buchpreises zur Europäischen Verständigung 2020. Im DW-Interview spricht er über Verständigung und die deutsch-ungarischen Beziehungen.

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László Földényi, Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung
László Földényi im DW-Gespräch 2021Bild: DW

Im Mai 2021 erhielt László F. Földényi für sein Werk "Lob der Melancholie. Rätselhafte Botschaften" nachträglich den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung, mit dem er ein Jahr zuvor ausgezeichnet worden war. Die Verleihung war 2020 wegen der Corona-Pandemie ausgefallen. Aus Anlass der Preisverleihung hielt der Essayist eine Rede über Verständigung, die deutsch-ungarischen Beziehungen und persönliche Erlebnisse bei der Besetzung der Theater- und Filmuniversität (SZFE) in Budapest im Herbst 2020. Dort war er bis zur Übernahme der Universität durch eine regierungsnahe Stiftungsleitung als Professor tätig.

DW: Verständigung setzt gemeinsame Sprache und gemeinsames Wissen voraus. Und man muss sie wollen. Das geht nicht, wenn man andere Meinungen von vornherein ignoriert. Wie gut sind die Aussichten auf Verständigung im heutigen Ungarn?

László Földényi: Ich mag den deutschen Begriff "Verständigung" sehr. Er impliziert nicht nur Verständnis, sondern auch Gegenseitigkeit: Zwei Menschen sind bereit, miteinander ins Gespräch zu kommen, um durch Dialog einen gemeinsamen Nenner zu finden. Im Ungarischen kann man das gar nicht mit einem Wort ausdrücken. Wenn ich an die aktuelle Situation in Ungarn denke, dann muss ich sagen, dass es so tiefe Kluften zwischen einzelnen Gruppen und Menschen gibt - sogar innerhalb eines Familien- oder Freundeskreises -, dass Ungarn den Punkt erreicht hat, an dem fast keine Verständigung zwischen Menschen mit unterschiedlichen Meinungen möglich ist. Und Politiker nutzen diese Situation leider aus und heizen sie weiter an. Das ist ein Problem, für das ich keine Lösung sehe.

László Földényi, Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung
László Földényi, Träger des Leipziger Buchpreises zur Europäischen Verständigung 2020, in seiner BibliothekBild: DW

Ungarische Scham und deutsche Wirtschaftsinteressen

Inwiefern kann Deutschland Ungarn verstehen und umgekehrt? Gibt es noch eine gemeinsame Sprache und guten Willen?

Ich habe bei der Preisverleihung mit vielen Deutschen gesprochen und es war dramatisch, damit konfrontiert zu werden, dass mich alle als jemanden ansprachen, der aus einer Situation nach Deutschland gekommen ist, die man bemitleiden sollte. Ich war also definitiv von einem Gefühl des Bedauerns umgeben, gepaart mit Erstaunen darüber, warum Ungarn so ist, wie es ist. Und das wurde von Menschen mit unterschiedlicher politischer Einstellung zum Ausdruck gebracht. Nicht nur von liberalen, sondern auch von sehr konservativen Deutschen. Und ich musste mich tatsächlich dafür schämen, dass mein Heimatland in Deutschland derzeit einen so schlechten Ruf hat.

Und was halten Sie davon, wie Deutschland in regierungsnahen oder in öffentlich-rechtlichen Medien in Ungarn wahrgenommen wird?

Ich weiß nicht, wie die öffentlich-rechtlichen Medien über Deutschland berichten, weil ich sie seit Jahren nicht mehr verfolge. Aber es ist jedem bekannt, welche Interessen Deutschland in Ungarn hat und wie dabei politische und kulturelle Aspekte wirtschaftlichen Interessen untergeordnet werden. So sagte Angela Merkel einmal öffentlich in Ungarn, dass EU-Gelder im Land sehr gut und korrekt eingesetzt würden. Offensichtlich entsprach diese Aussage ihrem Interesse. Und einen Tag später, als sie wieder in Deutschland war, nahm sie es zurück. Das ist ein Beispiel dafür, was für eine Komplizenschaft zwischen den beiden Ländern besteht. Das betrübt mich zutiefst.

László Földényi, Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung
László Földényi im DW-Gespräch 2021Bild: DW

"Kulturkampf" ohne Kultur

Viele Kritiker sehen in der Kulturpolitik der Regierung Orban Parallelen zu dem allgemeinen Machtausbau des Regimes. Kultur scheint nur ein weiterer Bereich zu sein, den man übernehmen und mit eigenen Leuten besetzen will - wie erleben Sie das?

Kulturpolitik in Ungarn lässt sich am besten mit dem Begriff "Kulturkampf" beschreiben. Dieser alte Begriff wird in Ungarn tatsächlich oft im deutschen Original gebraucht. Die Essenz dieses Kulturkampfes in Ungarn ist, dass Kultur dabei fast keine Rolle spielt. Ich würde sagen, sie ist ein sehr kleiner, marginaler Aspekt. Bis vor kurzem war ich Professor an der Budapester Universität für Theater und Film, wo ich aus bekannten Gründen zurücktreten musste. (Im Mai 2020 wurde bekanntgegeben, dass die renommierte Theater- und Filmuniversität von einer öffentlichen Stiftung übernommen wird, deren Leitung von der Regierung bestimmt wurde, worauf Universitätsgremien keinen Einfluss hatten. Daraufhin besetzten Studenten im September 2020 aus Protest das Universitätsgebäude, Anmerk. Zs.B.) Insofern bin ich ein Opfer dieses Kulturkampfes, da meine Karriere beendet wurde. Und nicht nur meine, sondern auch die von rund 25 anderen Dozenten und Hunderten von Studenten. Wenn ich nur diesen einen, winzigen Ausschnitt betrachte, dann ist dieser "Kulturkampf" im heutigen Ungarn nichts anderes als unendliche Beschädigung und Zerstörung. Es wird Salz in die Wunden von jedem gestreut, der etwas anderes tut als das, was von ihm erwartet wird.

Ungarn Budapest SZFE
Besetzung der Theater- und Filmuniversität SZFE in Budapest 2020Bild: DW/F. Schlagwein

Wie beurteilen sie heute die Besetzung der Theater- und Filmuniversität und die Studentenbewegung "freeSZFE", die die Unabhängigkeit der Universität retten und ein normales Studium fortsetzen wollte?

Ich muss sagen, dass diese Blockade, an der ich als Professor teilnahm, eine der wichtigsten Erfahrungen meines Lebens war. Ich glaube nicht, dass es so etwas jemals auf der Welt gegeben hat, dass Studierende an der Seite ihrer Dozenten streiken und nicht gegen sie kämpfen. Gleichzeitig hat sich keine andere ungarische Universität wirklich für uns eingesetzt. Die Rektorenkonferenz schwieg, und alle dachten, ihre Unis würden verschont, wenn sie nichts tun. Dass wir so allein gelassen wurden, war sehr entmutigend, aber typisch für die ungarische Realität. Und unter diesen Umständen haben wir immerhin erreicht, dass unsere Studenten von fünf europäischen Universitäten von Warschau bis Salzburg aufgenommen wurden. Das war ein Solidaritätsakt zwischen europäischen Universitäten, wie er eigentlich selbstverständlich sein sollte. Aber wenn man es zum ersten Mal erlebt, glaubt man es nicht. Und diese Universitäten haben sich nicht aus politischen Gründen dazu entschlossen, sondern weil sie gesehen haben, dass die Studenten in großer Not sind. Es war rein berufliche Solidarität.

Ungarn Budapest SZFE
Studenten besetzen die Budapester Theater- und Filmuniversität SZFE im Herbst 2020Bild: DW/F. Schlagwein