Heime der Armut
15. September 2008Es ist sieben Uhr. Der Erzieher Atanas Barev weckt die Jüngsten im "Kinderheim Maria Luisa". Das Haus liegt am Rande der Altstadt von Plovdiv, der zweitgrößten Stadt des Landes. Atanas Barev achtet darauf, dass sich die Kinder waschen und pünktlich frühstücken. Dann bringt er sie zur Schule. Am Nachmittag werden einige zur Kunsttherapie gehen, andere in einen Sportverein. Aber das war nicht immer so. "Früher haben wir hier im Winter gefroren, weil weder die Wände noch das Dach isoliert waren", erinnert sich die Direktorin Darina Kukeva.
Feuchte, schimmelige Wände und morsche Fußböden, das sei der Alltag gewesen. Unter dem Linoleum klafften Löcher. "Das war ziemlich gefährlich", sagt Kukeva. Das ist zehn Jahre her. Seitdem wird das "Maria Luisa" von dem deutschen "Verein zur Förderung Bulgarischer Kinderheime" unterstützt. Seither geht es zumindest ein bisschen bergauf. In Plovdiv wurde das alte Haus abgerissen und eine neue Anlage gebaut. Mit ihren bunten Reihenhäusern ist sie heute eine der modernsten Einrichtungen des Landes.
Mutter vor den Augen ihrer Kinder erschlagen
Die Kinder, die hier eine neue Heimat gefunden haben, sind meistens Opfer der jüngsten gesellschaftlichen Umbrüche. Der Zusammenbruch der politischen Strukturen nach der Wende hat auch viele Familien destabilisiert. Es gab dramatische Folgen: Alkohol, sexueller Missbrauch, Gewalt - wie im Fall von Christina und Petar, deren Mutter vom Stiefvater erschlagen wurde. "Alles war voller Blut: Der Boden, die Wände, sogar die Zimmerdecke", erinnert sich der Erzieher Valentin Velinov. "Als die Nachbarn die beiden Kinder fanden, saß der Junge auf dem Bett und hielt den Kopf seiner Mutter auf dem Schoß. Sie muss in seinen Händen gestorben sein."
Bulgarien ist heute das Land mit den meisten Heimkindern in Europa. Daran hat die EU-Mitgliedschaft nichts geändert. Im Gegenteil, die Kinderarmut nimmt eher zu als ab, wie die Beamten in Brüssel berichten. Kinderarmut in Bulgarien sei eine direkte Folge der Armut der Eltern. Laut EU leben 65 Prozent der bulgarischen Kinder in Haushalten mit einem Einkommen unter der offiziellen Armutsgrenze von 78 Euro im Monat.
Im Heim "Maria Luisa" leben derzeit 80 Kinder - die meisten, weil ihre Eltern sie schlichtweg nicht ernähren können. Trotz der Unterstützung durch den Verein aus Deutschland hat Direktorin Kukeva nur rund 70 Leva pro Monat für jedes Kind zur Verfügung - umgerechnet 2,50 Euro am Tag. Brauchen würde sie aber etwa 3,50 Euro. Jeden Monat ist es die gleiche Situation: "Irgendwann kommt dann ein Anruf von meinem Kollegen, es sei kein Geld mehr da, ich solle mir Sponsoren suchen", sagt sie, "So läuft das hier."
Das Geld reicht nicht einmal fürs Nötigste
Aber selbst 3,50 Euro pro Tag und Kind sind nicht viel, wenn man davon Essen, Kleidung, Ausbildung, Therapie und Freizeitaktivitäten bezahlen will. Die Preise in Bulgarien haben längst europäisches Niveau erreicht. Hilfe erwarten die Erzieher weder von der politischen noch von der wirtschaftlichen Elite des Landes. So hat die EU vor kurzem Hilfsgelder an Bulgarien wegen der ungebremsten Korruption im Land eingefroren. Gleichzeitig registriert der "Verein zur Förderung bulgarischer Kinderheime" seit dem EU-Beitritt einen dramatischen Spendenrückgang. Die Helfer schließen nicht aus, dass sie einigen Projekten die Zuschüsse streichen müssen.
Für die Kinder im "Maria Luisa" wäre das verheerend. Denn ohne die Hilfe aus dem Ausland könnten zum Beispiel weder die Wohngebäude instand gehalten, noch Therapien bezahlt werden. Für viele Kinder sind diese aber dringend notwendig, unter anderem auch für die inzwischen 18-jährige Christina. Das Mädchen ist nach wie vor traumatisiert von der Ermordung ihrer Mutter durch den Steifvater. Bis heute hat sie nicht die Kraft gefunden, das Grab ihrer Mutter zu besuchen. "Früher oder später muss ich ans Grab von Mama gehen", sagt sie, "aber wann das sein wird, weiß ich nicht."