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Gier-Ausstellung: Darf's ein bisschen mehr sein?

Dagmar Breitenbach
18. März 2021

Menschen können gierig sein: nach Geld oder Klicks, Autos oder Schuhen. Das Haus der Geschichte in Stuttgart widmet sich mit einer Trilogie unseren Emotionen.

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Goldbarren liegen aufeinander gestapelt
Gold symbolisiert Reichtum - und ist Ziel der Gier seit MenschengedenkenBild: picture-alliance/dpa/K. Mathis

Der Duden beschreibt das Wort "Gier" als "heftiges, maßloses Verlangen" und "ungezügelte Begierde", die sich auf Genuss, Befriedigung, Besitz und Erfüllung von Wünschen richtet. Gier verlangt nach mehr als nötig ist. Viel mehr.

Die katholische Kirche betrachtet Gier als eine der sieben Todsünden. In der heutigen Gesellschaft wird die Gier in manchen Branchen als notwendige Tugend angesehen, sei es an der Börse oder auf dem Fußballplatz. Ein unstillbares Verlangen nach Geld, Wohlstand und materiellen Dingen mag verwerflich erscheinen, aber Gier ist auch ein Motor für die Dynamik einer Marktwirtschaft. Menschen sind gierig nach Wissen, Entwicklung und Erfolg. Und dann gibt es ja auch noch die Gier nach Liebe, Anerkennung und Freundschaft.

Gier: Unmoralisch oder legitim?

Tatsächlich sei Gier ein sehr ambivalentes Thema, sagt Paula Lutum-Lenger, Direktorin am Haus der Geschichte Baden-Württemberg. Das Museum wählte das Thema für die erste Schau einer geplanten Ausstellungs-Trilogie über Gier, Hass und Liebe. "Das sind Kräfte, die Menschen antreiben, Schlüssel-Emotionen in der Geschichte und der gegenwärtigen Gesellschaft", so die Direktorin.

Nobelpreisträger Fritz Haber
Fritz Haber bekam den Chemie-Nobelpreis - entwickelte aber auch eine MassenvernichtungswaffeBild: picture-alliance

Die Ausstellung zeigt 31 Geschichten, die sich mit dem Phänomen der Gier beschäftigen. Zu sehen sind 300 Exponate, darunter Dokumente, Objekte, Fotos und Videos, die mehr als drei Jahrhunderte zurückreichen - vonder deutschen Kolonialzeit bis in die Gegenwart. Sie alle haben auch einen Bezug zur Geschichte des südwestdeutschen Bundeslandes Baden-Württemberg, in dessen Landeshauptstadt Stuttgart das Museum steht.

Folgen grenzenloser Neugier

Für die Museumsleiterin ist die Geschichte des deutschen Chemikers Fritz Haber ein gutes Beispiel für Gier. "Die Nutzung seiner Forschung sowohl für zivile als auch für militärische Zwecke zeigt die Ambivalenz seiner grenzenlosen Neugier", sagt Lutum-Lenger. Haber erhielt 1918 den Chemie-Nobelpreis für die Entwicklung einer Methode zur Synthese von Ammoniak, die die industrielle Herstellung von Düngemitteln ermöglichte und die Nahrungsmittelproduktion für einen großen Teil der Weltbevölkerung sicherte. Aber Haber entwickelte auch Giftgase im Ersten Weltkrieg. "Er überwachte persönlich den Einsatz dieser Massenvernichtungswaffe an der Front", berichtet die Direktorin.

Ein Exponat der Ausstellung zeigt, wie sich der Adel im frühen 19. Jahrhundert in Deutschland aus Habgier an Kirchengütern bediente, ein anderes thematisiert einen Fall aus der Zeit, als das Deutsche Reich von 1884 bis 1919 Kolonialmacht in Kamerun war: Oberleutnant Richard Hirtler hatte seinen Einsatz in dem westafrikanischen Land genutzt, um eine eigene Kunsthandwerkssammlung aufzubauen. Der "Thron von Garega" wird nun in Stuttgart ausgestellt.

Die Ausstellung beschäftigt sich auch mit dem Raub jüdischen Eigentums unter dem Nazi-Regime. Hass, Antisemitismus, Deportation und Vernichtung der jüdischen Bevölkerung werden auch mit der nationalistischen Gier der Deutschen in Verbindung gebracht. 

Einkaufen bis zum Umfallen

Heute spiegelt sich Gier auch im extremen Konsumverhalten wider: Shoppen ist für manche Menschen, die vom Einkaufen nicht genug bekommen können, zu einem Lebensstil geworden. In der Sektion "Kaufrausch" zeigt die Ausstellung einige der heutigen Shopping-Exzesse: Wie Menschen in Outlet-Centern reduzierte Luxusprodukte kaufen oder hohe Preise für limitierte Turnschuhe bezahlen, die nie getragen werden. 

In den sozialen Medien sind Influencer gierig nach Likes und Followern. Die Ausstellung zeigt auch, wie Gier Produktionsprozesse beeinflusst. Um den Gewinn zu steigern, versuchen Unternehmen mit allen Mitteln, die Produktionskosten zu senken.

Ein Schuhregal mit gefragten Sneakern
Haben wollen, haben müssen: Schuhe sind Statussymbole - selbst wenn sie nie getragen werdenBild: Daniel Stauch/Haus der Geschichte Baden-Württemberg

Ein Beispiel dafür wird in der Ausstellung durch eine kleine Kuh-Skulptur veranschaulicht. Sie steht symbolisch für die Tatsache, dass die EU 2015 die Milchquoten aufgehoben hat, wodurch die Milchbauern weniger verdienten. Die Schau skizziert aber auch, wie sich die Milchwirtschaft über die Jahrhunderte entwickelt hat und durch fragwürdige Methoden heute extrem hohe Milcherträge erzielt: Laut dem Museum soll eine Kuh im Jahr 1800 etwa 1000 Liter Milch pro Jahr gegeben haben, ein Jahrhundert später habe sich diese Zahl vervierfacht. Im Jahr 2020 soll das Pensum je Kuh bei bis zu 10.000 Litern pro Jahr gelegen haben.

Gierig nach Aufmerksamkeit

Am 28. April 1983 berichtete das Magazin "Stern", dass "die Geschichte des Dritten Reiches zum Teil neu geschrieben werden muss". Im Glauben, einen großen Scoop gelandet zu haben, veröffentlichte das Magazin Hitlers Tagebücher - ohne zu ahnen, dass die Redaktion in ihrer Gier nach sensationellen Schlagzeilen auf einen Schwindel hereingefallen war. Die 62 Tagebücher waren Fälschungen.

Gefälschtes Hitler-Tagebuch
Die Gier nach einer Sensation ließ den "Stern" 1983 über Hitlers Tagebücher berichten - doch die waren gefälschtBild: Axel Thünker/Haus der Geschichte

In der Welt des Sports ist Ehrgeiz ein anderes Wort für die Gier, zu gewinnen. Hier ist sie sogar eine Art Tugend. Der erfolgreiche deutsche Fußballtrainer Jürgen Klopp machte "gierig sein" zu einem beliebten Schlüssel zum Erfolg.

Dieser Ehrgeiz kann jedoch zu Exzessen führen, die unser Ökosystem bedrohen. Eines der Ausstellungsstücke ist der ausgestopfte Kopf eines Nashorns, das in den 1920er-Jahren von Trophäenjägern erlegt wurde. Sein Horn fehlt. Damals strebten Großwildjäger nach den "Big Five" - Löwe, Leopard, Nashorn, Elefant und Kap-Büffel. Das Exponat steht aber auch für die Gier nach Geld, denn Diebe sägten den Tieren die Hörner ab, um sie mit großem Gewinn in asiatische Länder zu verkaufen, wo etwa das Nashorn in der traditionellen Medizin verwendet wurde - oder für extravagante Geschenke. 

Ein Nashornkopf ohne Horn in der Ausstellung "Gier"
Trophäenjäger töteten dieses Nashorn, dessen abgeschnittenes Horn teuer verkauft wurdeBild: Daniel Stauch/Haus der Geschichte Baden-Württemberg

Die Emotionen Gier, Hass und Liebe treiben Menschen an, bringen sie zusammen, entzweien sie, bauen Gesellschaften auf und zerstören sie. Laut Museumsdirektorin Paula Lutum-Lenger sind die Geschichten dieser Emotionen eng miteinander verbunden.

"Gier", Teil Eins der Ausstellungstrilogie, läuft bis zum 19. September 2021 im Haus der Geschichte Baden-Württemberg. Das Programm umfasst auch Online-Veranstaltungen. Teil Zwei - "Hass" - soll, abhängig von der Entwicklung der Corona-Pandemie, am 17. Dezember starten. "Liebe" soll die Trilogie im Sommer 2022 abschließen. 

Adaption: Torsten Landsberg