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Politik

"Ungarn ist keine Demokratie mehr"

Felix Schlagwein
13. Mai 2020

In der Diskussion um ihr Notstandsgesetz spricht die Orbán-Regierung von "Hexenjagd" und "Fake News". Im DW-Interview erklärt Verfassungsrechtler Gábor Halmai, warum das Gesetz die Demokratie in Ungarn abgeschafft hat.

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Gábor Halmai
Gábor Halmai, Professor für vergleichendes Verfassungsrecht am EUI in FlorenzBild: privat

Deutsche Welle: Die EU hat beschlossen, nicht gegen das viel kritisierte ungarische Notstandsgesetz vorzugehen. Premierminister Viktor Orbán verlangte kürzlich eine Entschuldigung von seinen Kritikern. In einem Brief an die Europäische Volkspartei (EVP) spricht er von einem "beispiellosen Angriff" und einer "Desinformationskampagne gegen Ungarn". War der anfängliche Aufschrei wegen des Gesetzes ungerechtfertigt?

Gábor Halmai: Anfang April gab die Vizepräsidentin der EU-Kommission, Věra Jourová, ein Interview, in dem sie die ungarische Regierung wegen der langjährigen Nichteinhaltung rechtsstaatlicher Werte kritisierte. Gleichzeitig sagte sie aber, dass sie keine unmittelbare Möglichkeit sehe, das Ermächtigungsgesetz selbst in Frage zu stellen. Die ungarische Regierung nahm dies zum Anlass, ihre Kritiker anzugreifen. Nun scheint Frau Jourová ihre Meinung geändert zu haben. In einem Interview sagte sie kürzlich, dass sie viele Ungenauigkeiten und Gefahren in Ungarns Ermächtigungsgesetz und den dadurch erlassenen Regierungsdekreten sieht. Die ungarische Regierung hat darauf sehr verärgert reagiert. Sie kritisiert nun sowohl Jourová als auch all jene, die von Anfang an gegen das Gesetz waren.

Die ungarische Regierung, allen voran Justizministerin Judit Varga, kritisiert die Anwendung "doppelter Standards" gegenüber Ungarn. In der Corona-Krise würden auch andere Staaten mit Notstandsgesetzen regieren und Grundrechte einschränken, sagt sie. Wie unterscheidet sich das ungarische Ermächtigungsgesetz von den Notstandsgesetzen anderer Länder?

Einige Punkte sind in Ungarn einzigartig und können nicht mit den Maßnahmen der anderen EU-Mitgliedstaaten, nicht einmal mit irgendeinem Land weltweit, verglichen werden. Das ungarische Ermächtigungsgesetz verstößt aus vielerlei Gründen gegen die ungarische Verfassung - jene Verfassung, die übrigens ausschließlich durch die Stimmen der derzeitigen Regierung im Jahr 2011 in Kraft gesetzt wurde. Aber das Ermächtigungsgesetz war nicht nur verfassungswidrig, es war auch unnötig. Das ungarische Rechtssystem bietet eine ausreichende rechtliche Grundlage für die Bekämpfung des Coronavirus. Wenn also die ungarische Regierung argumentiert, dass 20 EU-Mitgliedstaaten auch Notstandsgesetze eingeführt hätten, war das ungarische explizit nicht notwendig. Es ist nur dazu da, der ungarischen Regierung unbegrenzte Macht ohne zeitliche Begrenzung zu geben.

Welche Maßnahmen hat die Regierung Orbán mit dem Ermächtigungsgesetz bisher ergriffen?

Seit Anfang April wurden über 100 Dekrete erlassen. Ein frühes Dekret änderte das Arbeitsrecht und hob jeglichen Schutz für Arbeitnehmer auf. Eines der jüngsten Beispiele ist ein Erlass, der die Datenschutz-Grundverordnung der Europäischen Union außer Kraft setzt. Außerdem wurden alle Krankenhäuser und etwa 150 staatliche und private Unternehmen unter militärische Kontrolle gestellt. Deren Management kann geschäftliche Entscheidungen nur noch mit Zustimmung der von der Regierung entsandten Militärs treffen. In einem Unternehmen wechselte die Regierung per Dekret sogar die gesamte Führungsebene aus. So etwas hat es in keinem anderen EU-Mitgliedstaat gegeben und stellt eine eklatante Verletzung sowohl des ungarischen als auch des Europarechts dar. 

Regierungsmitglieder haben wiederholt betont, dass das Parlament in Budapest das Ermächtigungsgesetz jederzeit zurücknehmen könne. Allerdings kontrolliert die Regierungskoalition zwei Drittel der Parlamentssitze. In welchem Szenario könnte das Parlament die Notstandsbefugnisse zurücknehmen?

Dies ist ein sehr trügerisches Argument der ungarischen Regierung. Ich erinnere mich an keinen Fall in den letzten zehn Jahren, in dem das Parlament gegen einen wichtigen Regierungsvorschlag gestimmt hätte. Es besteht keine Chance, dass dieses Parlament, das von einer Zweidrittelmehrheit der Fidesz-Partei geführt wird, sich gegen irgendwelche Maßnahmen der Regierung stellt. Übrigens: Um das Ermächtigungsgesetz zu widerrufen, braucht das Parlament eine Zweidrittelmehrheit. Selbst wenn also die derzeitige Regierung ihre Mehrheit aufgrund fehlender Nachwahlen und des Todes einiger Parlamentarier verlieren würde - was ich ganz sicher nicht hoffe - würde das Gesetz nicht aufgehoben.

Könnte das Verfassungsgericht eingreifen, um sicherzustellen, dass die Orbán-Regierung ihre neuen Befugnisse nicht noch weiter ausnutzt?

In allen anderen demokratischen Ländern in der EU gibt es außerhalb des Parlaments weitere Institutionen, die die Regierung kontrollieren: Es gibt Verfassungsgerichte, es gibt Oberste Gerichte, es gibt Präsidenten. In Ungarn wurden allerdings alle Mitglieder des Verfassungsgerichts von der Fidesz nominiert und gewählt. Sie haben nie in einer ernsthaften politischen Frage gegen die Regierung entschieden. Ungarns Staatspräsident ist einer der Fidesz Gründer und ein guter Freund von Viktor Orbán. Er brauchte nur zwei Stunden, um das Ermächtigungsgesetz zu unterzeichnen. So viel Zeit hat er sich genommen, um zu untersuchen, ob das Gesetz politisch und verfassungsmäßig akzeptabel ist. Wie würde sich dieser Präsident gegen irgendetwas stellen, was diese Regierung tut?

Inzwischen sind die Oppositionsparteien massiv unter Druck geraten. Ungarns Städten, von denen viele von der Opposition regiert werden, wurden wichtige finanzielle Mittel genommen. Die Parteienfinanzierung ist bis Ende des Jahres ausgesetzt, was vor allem die Opposition betrifft.

Ungarn hat wie Deutschland ein Sondergesetz zur Parteienfinanzierung. Alle Maßnahmen, die die Finanzierung der politischen Parteien betreffen, können nur durch ein Gesetz geregelt werden. Dieser Akt der Kürzung der Parteienfinanzierung wäre ohne das Ermächtigungsgesetz nicht möglich gewesen. In der Tat trifft sie die Oppositionsparteien wesentlich härter, weil die Regierungsparteien auf finanzielle Ressourcen der Regierung zurückgreifen können und deshalb nicht so stark von der Parteienfinanzierung abhängen. Viele Dekrete zielen auch auf lokale Selbstverwaltungen ab, vor allem auf solche, die von Oppositionsparteien regiert werden. Denen wurden kommunale Steuereinnahmen genommen, die dann zentralisiert wurden. Dieses Maßnahmenpaket ist ein reiner Racheakt der Regierung für die Wahlen im vergangenen Oktober, bei denen die Opposition wichtige Städte und Selbstverwaltungen gewann.

Das Ermächtigungsgesetz soll nur für die Zeit der Corona-Krise gelten, betont die Regierung. Wann diese Krise vorüber ist, weiß jedoch niemand. Viktor Orbán sprach bereits von einer zweiten Welle im Herbst. Ist das Gesetz gekommen, um zu bleiben?

Ja, das ist es. Ich möchte Sie an Folgendes erinnern: Während der Migrationskrise im Jahr 2015 hat die ungarische Regierung ein Migrationsnotstandsgesetz eingeführt. Dieses ist immer noch in Kraft. Auch wenn es in Ungarn fast keine Migranten mehr gibt und die Grenzen geschlossen sind. Die Regierung hat dieses Notstandsgesetz alle sechs Monate verlängert, das letzte Mal Anfang März dieses Jahres. Ich sehe also keine Garantie dafür, dass das aktuelle Ermächtigungsgesetz zurückgenommen wird, sobald die Pandemie endet.

Was könnte die EU tun, sollte sie sich letztendlich doch dazu entscheiden, gegen Ungarn vorzugehen?

Nun, es gibt eine Menge rechtlicher Möglichkeiten. Es gibt keinen wirklichen Grund für die EU-Kommission, kein Vertragsverletzungsverfahren nach Artikel 2 des EU-Vertrags einzuleiten. Das würde bedeuten, dass Ungarn wegen Verletzung der Grundwerte der EU angeklagt würde. Nach zehn Jahren ist Ungarn keine Demokratie mehr. Es hält sich nicht an die Grundwerte der EU. Das Problem sind nicht die fehlenden rechtlichen Instrumente. Das Problem ist der mangelnde politische Wille.

Gábor Halmai ist Professor für vergleichendes Verfassungsrecht am European University Institute (EUI) in Florenz. Von 1990 bis 1996 war er Hauptberater des Präsidenten des ungarischen Verfassungsgerichts.

Das Gespräch führte Felix Schlagwein.