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Argentinien: Messi statt Menschenrechte

21. November 2022

In Europa ist die Kritik an der WM in Katar allgegenwärtig. In Argentinien gibt es dagegen nur ein Thema: Holt Lionel Messi endlich seinen ersten WM-Titel?

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Argentinischer Lionel Messi-Fan
Bild: Alex Pantling/Getty Images

Während in Deutschland Kneipe um Kneipe wegen der Menschenrechtssituation in Katar und den Korruptionsskandalen der FIFA beschließt, die WM in Katar zu boykottieren, kümmert sich ein argentinischer Anwalt zur gleichen Zeit um die wirklich wichtigen Dinge im Leben: Osvaldo Perello verklagt im Namen seines fußballbegeisterten Sohnes die Sticker-Firma Panini auf satte 90.000 Euro Schmerzensgeld.

Sein Vorwurf: Das Unternehmen aus Italien handele böswillig und füge Kindern einen unermesslichen Schaden zu, weil es weiter Sammelalben unters Volk werfe, aber gleichzeitig Heftchen mit weniger Bildern verkaufe. Die begehrten "Figuritas" seien im ganzen Land kaum zu bekommen, Argentinien gleiche einer Panini-Wüste.

Klebebilder für das Panini-Sammelheftchen - im Vordergrund: Lionel Messi
Hauptgewinn in den argentinischen Panini-Sammelheftchen: der argentinische Ausnahmespieler Lionel MessiBild: Alexandre Schneider/Getty Images

Jackpot bei den Sammelbildern in Argentinien ist, wie sollte es auch anders sein, das Konterfei von Superstar Lionel Messi. Auf dem Schwarzmarkt wechselt der normale Sticker für 20 Euro den Besitzer, die "Messi-Goldlegenden-Karte" war dagegen manchem Sammler stolze 400 Euro wert. Denn nicht jeder hatte so ein unverschämtes Glück wie der US-amerikanische Botschafter in Buenos Aires.

Argentinien will den dritten Triumph nach 1978 und 1986

Messi statt Menschenrechte, Paninibilder statt Proteste, Begeisterung statt Boykott - ganz Argentinien befindet sich zurzeit in einem kollektiven Ausnahmezustand, der "Messimania". Mehr als 45 Millionen Menschen fiebern mit dem besten Fußballer der Welt mit, der sich bei seiner letzten Weltmeisterschaft endlich mit dem heiß ersehnten ersten WM-Titel krönen will. Und wer sollte die "Albiceleste", die seit 36 Spielen ungeschlagen ist, schon besiegen? 

Ein junger argeninischer Messi-Fan schaut in Doha über eine Brüstung
Ein junger Messi-Fan in Doha, schätzungsweise 40.000 Argentinier unterstützen ihr Team in KatarBild: Alex Pantling/Getty Images

Nur ganz wenige wollen nicht in dieser riesigen Euphoriewelle am Río de la Plata mitschwimmen. Gabriel Salvia, der in seiner Kindheit Balljunge beim Traditionsklub Boca Juniors war und dort vor 40 Jahren der argentinischen Legende Diego Armando Maradona zujubelte, ist einer von ihnen. Er sagt: "Viele Argentinier interessiert allein der sportliche Erfolg, für sie ist die WM eine gelungene Abwechslung zum Alltag mit seiner wirtschaftlichen Misere und der hohen Inflation. Zudem gibt es in Argentinien kaum ein Bewusstsein dafür, dass die Menschenrechte universell gültig sind, und nicht nur hier."

Argentinischer Fußballverband duckt sich weg

Salvia ist heute Direktor der argentinischen Menschenrechtsbehörde Cadal, die vor der WM als erste im Land auf die Situation der Arbeitsmigranten in Katar aufmerksam gemacht hat. Mit der Initiative "La pelota no se mancha" ("Der Fußball wird nicht beschmutzt") ist der Cadal-Gründer und frühere Journalist an Fußballverbände in der ganzen Welt herangetreten, auch an die AFA, den argentinischen Fußballverband. Das Ergebnis: ernüchternd.

Der Direktor der argentinischen Menschenrechtsorganisation Cadal, Gabriel Salvia, im Porträt
Gabriel Salvia: "Die Argentinier leben den Fußball mit einer unglaublichen Inbrunst, vielleicht ein wenig zu viel"Bild: Cadal

"Wir haben als symbolische Geste vorgeschlagen, dass alle Spieler mit einer schwarzen Armbinde auflaufen, ein Trauerflor in Erinnerung an die vielen Menschen, die beim Bau der Stadien gestorben sind. Die europäischen Verbände haben uns geantwortet, die Niederlande sogar sehr detailliert, während die AFA es nicht einmal für nötig hielt, uns auch nur eine Zeile zu schreiben."

WM 1978 in Argentinien war der FIFA-Sündenfall

Ausgerechnet Argentinien, das mit der Weltmeisterschaft von 1978 für den größten Sündenfall in der Geschichte des Weltfußballs sorgte, bleibt beim Protest gegen die WM in Katar seltsam stumm. Vor 44 Jahren ließ die argentinische Militärjunta während der Weltmeisterschaft Oppositionelle foltern, bei lebendigem Leib über dem Atlantik abwerfen und verschwinden. Kritik von Menschenrechtsorganisationen beantworteten die Machthaber zynisch mit "Los argentinos somos derechos y humanos"-Bannern, "Wir Argentinier sind rechts und human".

Der argentinische Junta-Chef Jorge Rafael Videla salutiert im Jahr 1977
Jorge Videla: "Es müssen so viele Menschen wie nötig in Argentinien sterben, damit das Land wieder sicher ist"Bild: Eduardo di Baia/AP/picture alliance

Das größte Folterzentrum, die Marineschule ESMA, war nur einen Katzensprung vom WM-Stadion von River Plate entfernt. Die Gefangenen hörten jeden einzelnen Torjubel, bevor sie von ihren Peinigern, ganz in Siegeslaune, mit Elektroschocks malträtiert wurden. Am Ende war das 3:1 im Finale gegen die Niederlande auch ein Sieg für Diktator Jorge Videla und seine Machtclique, die erst 1983 nach dem verlorenen Falklandkrieg abdanken musste.

Salvia sagt: "Die Junta hat die WM als internationales Propagandainstrument benutzt, während der Staatsterrorismus Menschen verschwinden ließ. Gerade hier sollte ein größeres Bewusstsein dafür vorhanden sein, wenn Menschenrechte verletzt werden. Dass dies nicht passiert, sagt viel über unsere demokratische Kultur aus."

Nicht nur Argentinien spart mit Kritik an Katar

Argentinien befindet sich mit seinem vollständigen Fokus auf den Fußball aber in bester Gesellschaft: Auch in den anderen WM-Teilnehmerländern aus Lateinamerika, Uruguay, Brasilien, Ecuador, Mexiko und Costa Rica findet die Situation der Arbeitsmigranten, der LGBT-Gemeinschaft und der Frauen in Katar nur auf einem Nebenplatz statt. Und auch in Serbien oder Kroatien ist die Fußballgemeinde eher verwundert über die hohen moralischen Ansprüche in Deutschland. Gabriel Salvia drückt dem deutschen Team gerade deshalb die Daumen - und nicht etwa seinem Landsmann Lionel Messi.

"Ich bin zwar in Buenos Aires geboren, aber für mich als Verteidiger der Menschenrechte sollte eine Mannschaft Weltmeister werden, die sich in irgendeiner Weise den Menschenrechten verpflichtet fühlt und die die Situation in Katar angesprochen hat. Also Deutschland, Dänemark, England oder meinetwegen auch Australien."

Porträt eines blonden Manns im schwarzen Hemd
Oliver Pieper DW-Reporter und Redakteur