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Europa Interview

Ruth Reichstein24. August 2007

Mindestlöhne, ja oder nein, das ist eine Entscheidung, die jedes EU-Land selbst treffen muss. Denn Sozialpolitik ist in der EU nach wie vor Sache der Mitgliedsländer.

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Bild: DW

Auf der anderen Seite können die Europäer seit 1992 auch in jedem anderen EU-Land leben, einen Job annehmen oder etwa Dienstleistungen anbieten. Sollten dann aber nicht auch die Spielregeln auf dem Arbeitsmarkt in allen Ländern die gleichen sein? Darüber sprach Ruth Reichstein mit der Europaabgeordneten Evelyne Gebhardt. Sie sitzt für die Sozialdemokraten im Ausschuss für Binnenmarkt und Verbraucherschutz.

Frau Gebhardt, brauchen wir in Europa einen einheitlichen Mindestlohn oder nicht?

Das glaube ich nicht unbedingt, aber wir brauchen Mindestlöhne in den Mitgliedsstaaten, die die Lohnniveaus der Mitgliedsstaaten widerspiegeln. Und das ist unerlässlich, wenn wir ein soziales europäisches Modell haben wollen. Wir haben ihn auch schon in 20 Staaten. Die Niveaus sind natürlich sehr unterschiedlich, weil die Wirtschaftskraft der Mitgliedsstaaten sehr unterschiedlich ist. Natürlich wäre es auch eine schöne Sache, wenn wir einen europäischen Mindestlohn gestalten könnten. Das ist eine Sache für in 20 oder 25 Jahren vielleicht.

Aus welchen Ländern kommt der meiste Widerstand?

Der meiste Widerstand kommt aus Deutschland. Und das ist ja das Allermerkwürdigste. Denn wir haben ja gerade bei der Diskussion um die Dienstleistungsrichtlinie gesehen, wie wichtig es ist, dass wir Mindeststandards haben. Wenn Arbeitnehmer aus anderen Mitgliedsstaaten kommen, so sagt die Entsenderichtline, dann müssen die Arbeitnehmer nach den Regeln in diesem Staat behandelt werden. Das haben wir in Deutschland in Bezug auf soziale Rechte, das Arbeitsrecht zum Beispiel, aber nicht bei den Löhnen. Und deshalb haben wir die Tore geöffnet für Lohndumping.

Und spätestens im Jahre 2011 werden wir die Öffnung für die Arbeitskräfte haben aus den neuen Mitgliedsstaaten, in denen die Lohnniveaus noch nicht so hoch sind wie bei uns. Und da ist es auch eine Frage des Selbstschutzes in Deutschland, dafür zu sorgen, dass diese Arbeitnehmer, die kommen werden und die auch kommen dürfen, auch tatsächlich so bezahlt werden wie die deutschen Arbeitskräfte. Das ist ein Schutz für die deutschen Arbeitskräfte, aber auch etwas gegen die Diskriminierung von ausländischen Arbeitskräften, denn es ist nicht einzusehen, warum zum Beispiel auf einer Baustelle der deutsche Arbeitnehmer mehr verdient als der Pole, der neben ihm genau die gleiche Arbeit macht. Das ist nicht einzusehen in Europa.

Wenn Sie sagen, der meiste Widerstand kommt aus der Bundesrepublik Deutschland, heißt das ja, dass solche Vorschläge im Parlament mit knapp 100 deutschen Abgeordneten überhaupt keine Chance haben im Moment.

Das Bewusstsein hat sich schon geändert – auch im Europäischen Parlament und es wurde auch anerkannt im Europäischen Parlament, dass man da sehr vorsichtig vorgehen muss, wenn wir wollen, dass die Bürger Europa weiterhin akzeptieren und sich nicht verraten fühlen durch die Beschlüsse, die wir in Europa machen. Das heißt also: die europäische Politik muss einen Mehrwert bedeuten.

Gibt es für Sie Branchen, die besonders dringend einen Mindestlohn brauchen?

Ich denke, dass eigentlich in allen Branchen ein Mindestlohn gebraucht wird.

Der Mindestlohn gehört ja zur Sozialpolitik oder zur Arbeitsmarktpolitik. Würden Sie soweit gehen, zu sagen: Wir brauchen eine europäische Sozialpolitik?

Wir haben eine europäische Sozialpolitik und die gliedert sich in verschiedene Branchen. Wir haben zum einen die nationale Sozialpolitik, die wir nicht antasten wollen und die auch sehr wichtig ist für die Identifikation der Menschen unter sich. Aber wir haben auch eine starke Komponente der europäischen Sozialpolitik: Arbeitschutzregelungen, Entsenderichtlinie. Das sind europäische Sozialabsicherungen, die den Bürgern sehr viel gebracht haben. Oder eine Regelung, die wir vor ein paar Jahren gemacht haben, die für Arbeitnehmer ein Recht auf einen schriftlichen Arbeitsvertrag geben, was den Bürgern in Deutschland – drei Millionen von ihnen - ein Recht auf einen schriftlichen Vertrag gegeben hat. Das ist auch Arbeitssicherheit, die da dahinter steckt - gerade für Menschen, die besonders schlecht bezahlt werden und schlechte Konditionen haben sonst.

Die EU braucht also nicht mehr Kompetenzen in der Sozialpolitik als sie sowieso schon hat?

Ja und Nein. Zum einen glaube ich schon, dass wir die Kompetenzen in den Mitgliedsstaaten behalten sollten, weil die Situation dort besser geregelt werden kann mit den Infrastrukturen, die dort besonders sind. Das bedeutet aber noch lange nicht, dass wir auf europäischer Ebene nicht noch viel mehr machen können und positiver an die Arbeit gehen können, um diesen Mindestschutz, den wir in den Staaten haben, auf einem möglichst hohen Niveau zu haben und zu verhindern, dass ein Dumping der Rechte eingesetzt wird, dass ein Wettbewerb der Sozialsysteme zwischen den Mitgliedsstaaten eingesetzt wird. Das wäre ein sehr großes Problem. Das müssen wir verhindern und deshalb brauchen wir da auch europäische Mindestregelungen, die eine Basis bringen für diese Rechte.

Der Mindestlohn ist ein Beispiel für Sozialpolitik. Gibt es andere Bereiche, wo sie sagen, das müssen wir auch in Angriff nehmen in den nächsten Monaten?

Wir diskutieren ja schon seit ein paar Jahren die Arbeitszeitrichtlinie. Aber auch was Arbeitsschutz und Arbeitsrechte angeht, kann man noch einiges machen. Und wir diskutieren natürlich auch einen Bereich der Sozialpolitik, der sehr sensibel ist. Nämlich, dass die Rechte, zum Beispiel Renten und Sozialrechte Bürger, wenn sie einen Staat verlassen, in einem anderen Staat arbeiten, dass sie diese Rechte auch mitnehmen können. Das ist eine Frage, die wir zu regeln haben, die ganz wichtig ist.