EU-Vizepräsidentin will Dialog mit Polen
30. Juni 2020DW: Frau Jourová, hat Europa die Corona-Krise gemeistert?
Věra Jourová: Europa kann viel schaffen, wenn es unter Druck steht. Wir haben gezeigt, dass wir als Ganzes und als einzelne Länder in der Lage waren, das Maximum dessen zu erreichen, was bei einem solchen Grad an Überraschung möglich war. Niemand hatte mit dieser Krise gerechnet. Aber wir haben noch viel zu tun.
Was ist in den letzten drei Monaten im Bereich Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit geschehen, den Themen mit denen Sie sich in der Kommission befassen?
Ich denke, dass die Corona-Ausnahmezustände in den Mitgliedsstaaten notwendig waren. Gleichzeitig wurden die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit gewahrt und zwar in dem Sinne, dass das Handeln ihrer Regierungen unter gerichtlicher und parlamentarischer Kontrolle stand. Es war wichtig, dass die Regierungen keine Blankoschecks bekommen, auf deren Basis sie mit ihren Bürgern machen könnten, was immer sie wollen. Die Kontrolle der Maßnahmen gegen die Pandemie hat in den meisten Fällen funktioniert und die Menschen hatten die ganze Zeit Zugang zu Informationen.
Jetzt ist wichtig, dass die Corona-Maßnahmen keinen Tag länger als nötig dauern. Im Herbst werden wir als EU-Kommission prüfen, ob wir tatsächlich zum Normalzustand zurückgekehrt sind.
Die ungarische Regierung hat einen Blankoscheck bekommen...
Es gibt etwas, was wir an den Corona-Vollmachten, die der ungarischen Regierung zur Verfügung standen, für ein Risiko halten: Es fehlte das Datum, nach dem die Regierung das Parlament hätte bitten müssen, den Ausnahmezustand zu verlängern. Heute haben wir einen besseren Überblick über den Zeitplan für das Ende der Pandemie-Regelungen. Und nun prüfen wir, ob die Vollmachten auch nur zum Teil in Kraft bleiben - oder ob sie aufgehoben werden.
Kann dieser Mechanismus in Zukunft wieder verwendet werden?
Wann immer es eine Krise gibt, werden natürlich solche Mechanismen eingesetzt werden.
Ihre Themen - Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit – sind während der Pandemie zwangsweise in den Hintergrund gerückt. Ich denke dabei besonders an dem Umgang der EU mit Polen und Ungarn. Wie wird die Kommission, wie werden Sie weiter vorgehen?
Wir werden weiterhin alle uns zur Verfügung stehenden Rechtsinstrumente nutzen, um Verletzungen europäischen Rechts zu verhindern. Aber gleichzeitig werden wir auch einen zivilisierten, offenen Dialog mit den Regierungen von Polen und Ungarn führen. Ich habe mich vor COVID-19 darum gekümmert und werde mich auch danach kümmern.
Planen Sie weitere Maßnahmen gegen Polen?
Uns liegen bereits einige Urteile vor und wir erwarten, dass Polen ihnen nachkommen wird. Und wir führen weitere Verfahren. Ich möchte den Dialog mit Polen fortsetzen. Ich würde mich über Veränderungen in der polnischen Justiz freuen, die dazu führen, dass die Gerichte dort wieder unabhängig von den politischen Machthabern werden.
Erwarten Sie derartige Schritte der polnischen Regierung?
Darauf warte ich schon lange. Und ich wünschte, es gäbe sie. Ich sage aber auch ganz deutlich: Dazu braucht man beide Seiten.
In der Zwischenzeit bereitet die Kommission einen Bericht über den Stand von Rechtsstaatlichkeit in der Europäischen Union vor. Wann erscheint er?
Im September. Das wird ein interessanter Moment, denn der Bericht wird verschiedene Indikatoren vergleichen. Einer davon ist die Unabhängigkeit der Justiz.
Was sind die anderen Indikatoren?
Die Unabhängigkeit der Medien und die Meinungsfreiheit, die für faire Wahlen wichtig sind. Wir brauchen nämlich auch Garantien, dass die Wahlen in jedem Land frei sind und dass die Kandidaten in gleichem Maß Zugang zu den Medien haben. Ein Teil dieses Berichts wird sich auch mit dem Stand des Kampfs gegen die Korruption in den einzelnen Ländern befassen.
Die 1964 geborene tschechische Anthropologin und Juristin Věra Jourová ist seit dem 1. Dezember 2019 Vizepräsidentin der EU-Kommission und Kommissarin für Werte und Transparenz.