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PolitikEuropa

Kommt die EU solidarisch durch den Winter?

20. Oktober 2022

Die Staats- und Regierungschef der Europäischen Union werden bei ihrem Gipfeltreffen der Ukraine weitere Unterstützung zusichern. Im Fokus stehen aber die Folgen des russischen Krieges für die europäische Wirtschaft.

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Deutschland | Gaszähler
Die Zähler sollen langsamer laufen: EU-Gipfel berät über Preise, Sparen und die Folgen des russischen KriegesBild: Christoph Hardt/Panama Pictures/picture alliance

Der belgische Premierminister Alexander de Croo gilt eigentlich als zurückhaltender und EU-freundlicher Politiker. Doch vor dem Brüsseler Gipfeltreffen an diesem Donnerstag und Freitag schlug er harte Töne an. "Das ist die Woche der Entscheidung." Es gehe schlicht darum, ob die Europäische Union in der dramatischen Wirtschafts- und Energiekrise wegen des russischen Krieges gegen die Ukraine noch eine Bedeutung habe: "Entweder wir kriegen das hin oder wir scheitern", sagte Premier de Croo im belgischen Parlament. "Die Zeit für Entschuldigungen ist vorbei." Wenn die EU Haushalte und Unternehmen vor steigenden Energiepreise schützen wolle, müsse sie jetzt liefern.

Der Belgier ist nicht der einzige EU-Premier, der beim Einkauf auf dem Weltmarkt für eine Preisobergrenze für Gas eintritt. Rund die Hälfte der 27 Staats- und Regierungschefs, die sich in Brüssel zum Gipfeltreffen versammeln werden, sehen das so, denn ein Deckel wäre schnell umzusetzen und würde die einzelnen Mitgliedstaaten nichts kosten.

Kein Preisdeckel für Gasimporte

Die andere Hälfte, darunter Deutschland, sieht das kritisch. Eine pauschale Preisobergrenze für importiertes Gas könnte zu Versorgungslücken führen, wenn Energie-Exporteure lieber andere Kunden beliefern: "Die Schiffe mit Flüssiggas fahren dahin, wo es den besten Preis gibt", sagte ein deutscher Regierungsbeamter vor dem Treffen in Brüssel.

EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen im EU-Parlament
Von der Leyen: EU-Kommission denkt weiter über partielle Preisbremsen für Gas nachBild: Jean-Francois Badias/AP/dpa/picture alliance

Auch die EU-Kommission lehnt einen generellen Gaspreisdeckel ab. Stattdessen hat die Präsidentin der EU-Kommission Ursula von der Leyen eine ganze Reihe anderer Maßnahmen zur Marktregulierung vorgelegt. Noch nicht ganz vom Tisch ist das Modell einer subventionierten Gaspreisbremse: In Spanien und Portugal zahlen Verbraucher für Strom, der aus Gas erzeugt wurde, einen fixen niedrigen Preis. Die Differenz zwischen Verbraucher- und Weltmarktpreis zahlt der Staat. "Es lohnt sich wirklich, auf EU-Ebene darüber nachzudenken. Es gibt noch offene Fragen, aber ich will nichts unversucht lassen", sagte von der Leyen am Vorabend des Gipfels im Europäischen Parlament.

Deutscher "Doppelwumms" gegen steigende Gaspreise

In Deutschland könnte ab März 2023 eine Preisbremse für sämtliches Gas gelten, das zur Stromerzeugung oder zum Beheizen von Haushalten und Gewerbebetrieben genutzt wird. Doch dieses Modell ist nach Ansicht von Experten sehr teuer. Darum hat die Bundesregierung 200 Milliarden Euro an neuen Schulden in den nächsten zwei Jahren vorgesehen.

Menschen protestieren mit Plakaten auf Französisch gegen hohe Preise
Hohe Energiepreise: Proteste in Frankreich, Deutschland und weiteren EU-StaatenBild: Lionel Urman/abaca/picture alliance

Diesen, wie Bundeskanzler Olaf Scholz es nannte, "Doppelwumms" kritisieren vor allem die weniger wohlhabenden EU-Länder, weil er den Wettbewerb in Europa verzerre. Sie fordern Hilfsfonds auf EU-Ebene gegen hohe Energiekosten, die dann auch aus dem gemeinsamen Haushalt der Europäischen Union finanziert werden sollte.

Die EU müsste wie beim Corona-Wiederaufbau-Fonds gemeinsame Schulden aufnehmen und das Geld in die Subventionierung von Energie stecken. Das jedoch werde kaum passieren, meint Philipp Lausberg vom European Policy Centre, einer Denkfabrik in Brüssel: "Es ist sehr kompliziert auf europäischer Ebene einen Preisdeckel zu finanzieren. Vor allem reiche Länder wie Deutschland sind sehr zögerlich, mehr Geld für die europäische Ebene bereitzustellen", sagte Lausberg der DW.

Olaf Scholz mit zerknirschtem Gesichtsausdruck vor einer Reihe EU-Flaggen
Beim letzten Gipfel in Prag Anfang Oktober verteidigte Kanzler Scholz seinen "Doppelwumms" Bild: Kay Nietfeld/dpa/picture alliance

Beim letzten informellen EU-Gipfel in Prag hatte Bundeskanzler Scholz einen pauschalen Preisdeckel verworfen und Kritik an seinem Doppelwumms zurückgewiesen. Schließlich hätten alle Länder der EU Hilfspakete auf den Weg gebracht. Tatsächlich haben Frankreich, Italien, Spanien, die Niederlande und andere Staaten Dutzende Milliarden in die Entlastung ihrer Bürger und Unternehmen gesteckt. Der belgische Premierminister Alexander de Croo gestand zu, dass es für den Rest der EU natürlich von Vorteil sei, wenn Deutschland seine Wirtschaft vor dem Kollaps bewahrt. Deutschland ist nicht nur die größte Volkswirtschaft und der größte Nettozahler der EU, seine Wirtschaft ist auch eng mit allen anderen EU-Staaten verflochten.

Gemeinsam sparen, gemeinsam einkaufen

Um neuerlichen Streit zu vermeiden, möchte Charles Michel lieber über die aktuellen Vorschläge der Kommission sprechen. Für den Präsidenten des Europäischen Rates, der die Sitzung in Brüssel leiten wird, steht Energiesparen an erster Stelle. Dann kommt der gemeinsame Einkauf von Gas durch europäische Unternehmen, um die Marktmacht zu bündeln: 15 Prozent des einzuspeichernden Gases sollen demnach gemeinsam zu einem möglichst niedrigen Preis gekauft werden. Außerdem sollen sich die EU-Staaten zu gegenseitigen Hilfslieferungen bei Gasmangel verpflichten.

Die Europäische Solidarität müsse gestärkt werden, meinte Michel in seiner Einladung zum Gipfeltreffen. Um die ärmeren EU-Staaten zu stützen, hat die EU-Kommission vorgeschlagen, 40 Milliarden Euro aus regionalen Fördertöpfen zu Energie-Subventionen umzuwidmen. In die Einkaufsgemeinschaft und die Solidarität sollen der EU-Kommission zufolge auch die westlichen Balkanstaaten und die östlichen Beitrittskandidaten Ukraine und Moldau einbezogen werden.

Infografik zeigt, dass Gas aus Norwegen, den Niederlanden und eigener Produktion eher konstant bleiben
Rückläufige Gasimporte aus Russland werden hauptsächlich durch Drittländer ersetzt

Der faire Preis für Flüssiggas (LNG) soll demnach über einen neuen Index ermittelt werden. Der soll den bisher auf Pipeline-Gas ausgerichteten Preisfindungsmechanismus TTF ablösen oder ergänzen. In der Theorie eine gute Idee, meint Energieexperte Lausberg, aber in der Praxis schwer umzusetzen: "Wenn man einen neuen Index einführt, müssen ihn die Marktteilnehmer auch anwenden wollen, auch wenn er neu und wenig vertrauenswürdig ist. Das braucht normalerweise einige Zeit und man muss Anreize schaffen, den Index zu nutzen." Ob der Preis dadurch überhaupt sinken würde, sei zudem fraglich.

Neue Sanktionen gegen Iran wegen Drohnenlieferung?

Mehr Einigkeit unter den 27 Protagonisten des EU-Gipfels herrscht in der Frage, wie mit dem Iran umzugehen ist. Die Staats- und Regierungschefs wollen sich auf neue Sanktionen gegen das iranische Mullah-Regime einigen, weil Teheran Kampfdrohnen an Russland liefert. Ihr Einsatz gegen die ukrainische Zivilbevölkerung sorgte in den letzten Tagen für großes Entsetzen. Die EU habe jetzt ausreichend Beweise, dass die Drohnen tatsächlich aus dem Iran stammten, sagte eine Sprecherin der EU-Kommission in Brüssel. Iran und Russland hatten das bislang kategorisch bestritten.

Rettungskräfte suchen in rauchenden Trümmern
Eine russische Drohne aus iranischer Produktion hat am 17. Oktober einen Wohnblock in Kiew getroffenBild: Oleksii Chumachenko/ZUMA/IMAGO

Erst am Montag hatten die EU-Außenminister ein Sanktionspaket gegen die iranische Führung verabschiedet. Angehörige der Sittenpolizei, die für den Tod der 22 Jahre alten Iranerin Jina Mahsa Amini verantwortlich gemacht werden, dürfen seither nicht mehr in die EU einreisen oder Vermögen aus der EU abziehen. Amini war wegen falschen Tragens ihres Kopftuches verhaftet worden und nach mutmaßlichen Misshandlungen durch die Sittenwächter gestorben. Der Tod der Frau vor vier Wochen hatte starke Massenproteste im Iran ausgelöst, gegen die das Regime mit Gewalt vorgeht.

Porträt eines Mannes mit blauem Sakko und roter Krawatte
Bernd Riegert Korrespondent in Brüssel mit Blick auf Menschen, Geschichten und Politik in der Europäischen Union