Asylpolitik - ein europäischer Streitfall
4. September 2020Tausende von Flüchtlingen und Asylsuchenden kampieren Anfang September 2015 im Bahnhof von Budapest. Die ungarische Regierung schaut weg und versucht, die Menschen per Bahn nach Österreich weiterzuleiten. Am 4. September spitzt sich die Lage zu, als sich Tausende zu Fuß auf der Autobahn in Richtung Österreich aufmachen.
Um eine humanitäre Tragödie zu vermeiden, lässt Bundeskanzlerin Angela Merkel die Einreise dieser Menschen und zehntausender Flüchtlinge und Asylbewerber in den kommenden Tagen über Österreich nach Deutschland zu. Da die meisten Menschen, die in jenen Tagen auf der Balkanroute unterwegs sind, nach Deutschland wollten, erklärt der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban, das Problem sei ein deutsches, kein europäisches.
Als im Sommer 2015 die Zahl der Flüchtlinge und Asylsuchenden, die hauptsächlich über Griechenland und die Balkanroute in die EU kamen, immer weiter anstieg, galt die "Dublin-Verordnung". Dieses europäische Gesetz regelt, dass für Flüchtlinge und Asylbewerber immer der Staat der ersten Einreise zuständig ist.
Im Falle der zehntausenden Menschen, die damals vor allem aus Syrien kamen, wäre das also Griechenland gewesen. Kurzzeitig setzte die deutsche Asylbehörde (BAMF) diese Regel am 21. August außer Kraft. Sie verzichtete darauf zu prüfen, welches EU-Land für eingereiste Asylsuchende aus Syrien zuständig war.
Das führte nach Meinung von Kritikern zu einem großen "Pull"-Effekt, also einem Sog, der immer mehr Menschen Hoffnung auf Aufnahme in Deutschland machte. Obwohl auch Bundeskanzlerin Angela Merkel die Dublin-Regeln als "obsolet" bezeichnete, wurden sie nach einigen chaotischen Wochen doch wieder in Kraft gesetzt. Sie gelten bis heute.
Aus der Krise wenig gelernt
Einen Mechanismus, wie Flüchtlinge und Asylsuchende in der EU verteilt werden könnten, gibt es nach wie vor nicht. Zwar haben die Innenminister der EU noch 2015 einen solchen Mechanismus beschlossen, doch Ungarn, Polen und einige andere EU-Mitgliedsstaaten weigern sich, diese Beschlüsse umzusetzen. Auch Gerichtsurteile des Europäischen Gerichtshofes, der Ungarn, Polen, die Slowakei und Tschechien zur Aufnahme von Flüchtlingen verpflichtete, wurden größtenteils ignoriert. Heute, im Jahr 2020, ist die EU keinen Schritt weiter als damals.
"Konnten wir aus der Krise lernen? Haben wir Systeme geschaffen, um solidarischer zu handeln?", fragt sich der Europaabgeordnete Damian Boeselager, der die proeuropäische Partei Volt vertritt. Seine Antwort ist ein schlichtes "Nein! Die Innenminister der Mitgliedsländer waren nicht in der Lage, sich an einen Tisch zu setzen."
"Türkei-Deal" bringt die Wende
Seit 2015 ist die Zahl der jährlichen Erstanträge auf Asyl in der EU von 1,3 Millionen auf 670 000 im Jahr 2019 gesunken. Schon bald nach der vorübergehenden unkontrollierten Einreisemöglichkeit haben sowohl Deutschland selbst als auch die Staaten auf der Balkanroute ihre Grenzen geschlossen und undurchlässiger gemacht. Es galt, den "Kontrollverlust", so der damalige Innenminister Thomas de Maizière, zu beseitigen.
Erst der sogenannte Flüchtlingspakt mit der Türkei im März 2016 führte dazu, dass die Zahl der ankommenden Flüchtlinge und Asylsuchenden in Griechenland stark zurückging. Die Türkei verpflichtete sich, Flüchtlinge und Asylsuchende von den griechischen Inseln zurückzunehmen. Im Gegenzug sollten geflohene Menschen direkt aus der Türkei in die EU ausgeflogen werden.
Dieser Deal, der der Türkei sechs Milliarden Euro an EU-Hilfsgeldern einbrachte, hält bis heute. Im Mittelmeer zwischen Libyen und Italien stellte die EU ihre Seenotrettung fast komplett ein und stützte sich zeitweise auf die libysche Küstenwache, die Flüchtlinge und Asylsuchende zurückhalten soll.
Trotzdem versuchen immer noch jede Woche Hunderte Menschen die Überfahrt. Viele erleiden Schiffbruch und ertrinken. Italien, Malta, Frankreich und Spanien öffnen ihre Häfen nur zögerlich und nur von Fall zu Fall für private Rettungsschiffe, die aus Seenot Gerettete anlanden wollen.
Grenzen schließen, Lager einrichten?
2016 hatte sich die EU eigentlich vorgenommen, die Asylverfahren gleich nach Ankunft in Griechenland oder Italien in den neu erfundenen "Hot spots" abzuwickeln. Doch diese waren viel zu klein und schnell überfordert. "Die Idee der Hot spots ist gescheitert. In Moria auf Lesbos sieht man, dass wir Menschen komplett menschenunwürdig behandeln", meint der Europaabgeordnete Damian Boeselager, der das Lager Moria selbst besucht hat.
Dort leben etwa 15.000 Asylsuchende. Ihre Verfahren dauern in Griechenland viele Monate oder gar Jahre. Im April 2016 hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel davon gesprochen, dass die Verfahren drei bis sechs Wochen dauern sollten, bevor man die Menschen dann bei einem negativen Bescheid wieder zurück in die Türkei bringe.
Ungarn hat im Sommer 2015 damit begonnen, einen Grenzzaun zu Serbien zu bauen, um so seine EU-Außengrenze abzuriegeln. Flüchtlinge und Asylsuchende konnten nur noch an ganz wenigen Punkten am Zaun Anträge stellen, die dann in einer Art "Transitzone" schnell entschieden wurden.
Dieses ungarische Modell, dass die EU-Kommission und auch der Europäische Gerichtshof kritisiert haben, hat aus Sicht Budapests Erfolg. Die Zahl der Menschen, die nach Ungarn kamen, ging drastisch zurück. Zuvor hatte schon Griechenland einen Zaun zur Türkei gebaut. Auch die bulgarisch-türkische Grenze ist teils mit einem Zaun gesichert.
Das System "Grenze schließen, Verfahren an der Grenze und sofortige Abschiebung" macht Schule. Der deutsche Innenminister Horst Seehofer (CSU) will genau das auf europäischer Ebene durchsetzen. Derartiges hatte ein EU-Gipfel bereits 2018 beschlossen. Die dort angedachten "Ausschiffungszentren" oder "Asylzentren", andere Begriffe für Sammellager an den Grenzen, wurden aber nie umgesetzt.
Den Vorschlag von Innenminister Seehofer nennt der Europaabgeordnete Damian Boeselager "unehrlich". Das sei ein Weg, den das Europaparlament nicht mitgehen könne. "Die Verfahren dauern zu lange. Wenn wir das Asylrecht aufrecht erhalten wollen, würden wir noch mehr überfüllte Lager erzeugen. Das kann nur schief gehen. Lager wie Moria sind meiner Meinung nach eine gar nicht so versteckte Abschreckungspolitik. Diese Abschreckung soll institutionalisiert werden, deswegen kann das keine Lösung sein."
"Auslagern" des Problems
Für Catherine Woollard vom Europäischen Flüchtlingsrat (ECRE) haben die letzten fünf Jahre vor allem gezeigt, dass Länder wie Ungarn oder Polen mit ihrer harten Haltung die Politik bestimmten. "Eine Lektion, die gelernt wurde, ist, dass bestimmte Mitgliedsstaaten nicht mehr an das Asylrecht glauben. Sie wollen Flüchtlingen keinen Schutz bieten. Das heißt, dass ein vorläufiger Verteilungsmechanismus nur auf eine Koalition der Willigen setzen kann."
Die EU-Kommission hatte bereits 2016 einschneidende Reformen der "Dublin-Regeln" und der Asylverfahren in der EU vorgeschlagen. Da sie aber auch einen verpflichtenden Verteilungsmechanismus für Asylsuchende vorsah, lehnen vor allem die östlichen und nördlichen EU-Mitglieder die Vorschläge bis heute ab.
"Stattdessen wird eine Strategie verfolgt, die wir 'Auslagerung' nennen und die die Menschen draußen halten soll", beobachtet Catherine Woollard. Die Türkei, Libyen, der Libanon, Jordanien und Nordafrika sollten sich mit den Flüchtlingen beschäftigen, die EU dagegen versuche, "abzutauchen".