Eine Zeitung für Europa
26. Juni 2013Robert Maxwell dachte groß. Der britische Verleger mit ungarischen Wurzeln, von den Medien "Pressezar" genannt, entwickelte Ende der 1980er Jahre einen ehrgeizigen Plan. Er wollte sein Zeitungsimperium, zu dem auch der Daily Mirror gehörte, um ein Magazin für ganz Europa erweitern, in englischer Sprache. "The European" sollte das transatlantische Pendant zu US-amerikanischen Prestige-Titeln wie "Newsweek" oder "Time" werden. Doch das Projekt stand von Beginn an unter einem schlechten Stern. Maxwell selbst verschwand 1990, nur ein Jahr nach Erscheinen der ersten Ausgabe, unter ungeklärten Umständen von seiner Yacht vor Teneriffa. "The European" erlebte ohne seinen Gründer noch acht erfolglose Jahre, bis das Magazin 1998 eingestellt wurde. Der Traum eines Magazins für Europa war geplatzt. Für einen Erfolg fehle einfach eine gesamteuropäische Öffentlichkeit, attestierten damals die Experten.
Auf der Suche nach internationalen Lesern
Seitdem gab es immer wieder den Versuch, Medien zu etablieren, die auch außerhalb der nationalen Grenzen funktionieren - mit mäßigem Erfolg. Das neueste Projekt heißt schlicht und einfach "Europa". Seit Anfang 2012 bringen die französische Le Monde, der britische Guardian, die deutsche Süddeutsche Zeitung, die italienische La Stampa, die spanische El País und die polnische Gazeta Wyborcza zusammen einmal im Quartal Europa heraus. Die Zeitung wird den Mutterblättern beigelegt oder als Themenspezial in das Hauptblatt integriert. Darin findet der Leser Artikel zu Jugendarbeitslosigkeit oder Bildung, aber auch Haushaltspolitik und ihre Auswirkung auf das Leben der Menschen wird diskutiert.
Viele der namhaften Titel stecken in der Krise. Le Monde, Frankreichs renommiertestes Blatt, kämpft seit Jahren mit sinkenden Auflagen und einem Schuldenberg von mehreren hundert Millionen Euro. Und damit steht das Traditionsblatt in Europa nicht allein da, die Branche sucht verzweifelt nach neuen Lesern. Erst vergangene Woche kündigte Le Monde an, auch eine englischsprachige Ausgabe auf den Markt bringen zu wollen. Auch "Europa" ist ein Versuch, neue Wege zu gehen und vielleicht den ein oder anderen Leser jenseits des nationalen Marktes zu gewinnen.
Die menschliche Seite Europas
"Das Besondere an 'Europa' ist, dass es sich wenig mit den europäischen Institutionen und der Politik der EU beschäftigt", sagt Vadim Makarenko, Wirtschaftsreporter bei der Gazeta Wyborcza. "Stattdessen geht es um normale europäische Bürger." Ihre Geschichten träten in der Berichterstattung an die Stelle von EU-Not-Gipfeln und Bürokratie. Als Stipendiat des renommierten Reuters Institute for the Study of Journalism an der University of Oxford hat sich der Journalist in einer Studie mit dem Zeitungsprojekt beschäftigt. Er wollte als beteiligter Reporter den Erfolg, die Methoden, aber auch die Schwierigkeiten des Projekts untersuchen.
Der Wunsch, anders und neu über Europa zu berichten, fällt in eine Zeit, in der die Skepsis der Bevölkerung gegenüber der EU besonders hoch ist. Eine im Frühjahr dieses Jahres veröffentlichte Umfrage des Eurobarometers zeigte, dass das Vertrauen in die EU auf einem historischen Tiefpunkt angelangt ist. Eine Zeitung, die über die menschliche Seite der EU berichtet, soll dieses Misstrauen abbauen, hoffen die Zeitungsmacher.
Europas Perspektiven
In der ersten Ausgabe von Europa widmeten sich die sechs Partner den Themen Bildung und Arbeitsmarkt. Wie können die Bildungssysteme Europas voneinander lernen? Warum wollen so viele junge Polen in London studieren? In welchen Wirtschaftsbranchen gibt es für die spanische Jugend noch Chancen?
Die Autoren ziehen die Themen vergleichend auf. Ein deutscher Journalist und Vater, der in Spanien lebt, macht sich in einem Essay über das dortige Schulsystem Gedanken. Oder der Brüssel-Korrespondent des Guardian reist durch die EU und sucht in seiner Reportage Antworten auf die Frage, warum der Arbeitsmarkt mancherorts funktioniert, anderswo aber nicht. "Voneinander und miteinander lernen" ist das Motto der Partner. "Jedes Blatt behält seinen journalistischen Charakter, aber das Projekt lebt eben von den Perspektiven aus den anderen Ländern", sagt Stefan Kornelius, Leiter des Außenressorts der Süddeutschen Zeitung und zuständig für die Europa-Beilage.
Gefühl einer europäischen Öffentlichkeit
Organisatorisch funktioniert die Zusammenarbeit wie ein Europäischer Rat im Kleinen. Es gibt sechs gleichberechtigte Partner, die Schirmherrschaft für eine Europa-Ausgabe rotiert unter den Zeitungen. Ähnlich wie bei den EU-Politikern ist die Einigung manchmal schwierig. "Die Strukturen sind noch ziemlich lose und oft ein wenig chaotisch", sagt Vadim Makarenko. "Da prallen sehr unterschiedliche Kulturen der Berichterstattung aufeinander." Die Engländer seien zum Beispiel eher nachrichtlich orientiert und setzten sehr stark auf Online-Inhalte, während Deutsche und Polen eher an Reportagen und anderen langen Formaten interessiert seien.
Trotz der Unterschiede sieht Stefan Kornelius in der Kooperation eine große Chance. "Wir richten uns an Menschen, die sich für Europa interessieren und die Integration als Gewinn sehen", sagt er. Es gebe zwar noch keine echte gesamteuropäische Öffentlichkeit, aber "durch unser Projekt können wir das Gefühl einer europäischen Öffentlichkeit zumindest fördern".
Seit der Zusammenarbeit bei "Europa" kooperieren die Journalisten nun auch in anderen Bereichen. Le Monde und die Süddeutsche Zeitung brachten anlässlich des 50. Jubiläums des deutsch-französischen Freundschaftsvertrags Anfang dieses Jahres eine gemeinsame Ausgabe heraus. Die italienische La Stampa wiederum belieferte ihre Partner mit Inhalten zum Rücktritt von Papst Benedikt XVI.
In der nächsten "Europa"-Ausgabe soll es im Hinblick auf die Bundestagswahl im September 2013 um die Sonderrolle Deutschlands in Europa gehen. Was müssen die Deutschen tun, um Europa gemeinsam mit ihren Partnern aus der Krise zu führen? Wie eng müssen sie zusammen arbeiten? Auch in der neuen Ausgabe soll deutlich werden, dass die Krise innerhalb Europas nicht nur Konflikte schürt. Aus der Sicht der beteiligten Redakteure hat sie die Europäer ein Stück weit näher gebracht, genau wie die Zeitungsmacher selbst.