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Ein Amerikaner in Berlin

Jefferson Chase22. September 2013

Kein Geschrei, kaum Musik, wenig Stimmung: Die Deutschen wählen - und sind dabei viel zu verhalten, meint der amerikanische DW-Wahlreporter Jefferson Chase. Und dabei gäbe es einige Gründe, sich aufzuregen.

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Blick in ein Wahllokal in Berlin (Foto: Ole Spata/dpa)
Bild: picture-alliance/dpa

Mir als Amerikaner kommt die Wahl in Deutschland sehr gemütlich vor. Die Wahlkämpfe in den USA sind wie Hollywood-Blockbuster: laut, hektisch und viel zu lang. Wenn die Deutschen dagegen wählen gehen, ist es eher wie ein TV-Spielfilm: überschaubar, ruhig, zweckmäßig.

Selbst in Berlin, dieser einst so politischen Stadt, ist es ziemlich ruhig im Vorfeld dieser Wahl geblieben. Ohne die Wahlplakate würde man kaum ahnen, dass am heutigen Sonntag was Besonderes los ist. Die 2,5 Millionen wahlberechtigten Berliner wissen, dass nicht die Hauptstadt allein entscheiden wird, wer an die Macht kommt – die meisten sind so oder so Stammwähler der einen oder anderen Partei. In der Innenstadt werden die Grünen und die SPD gut abschneiden, die Außenbezirke werden der CDU und im Osten zum Teil den Linken gehören. Die Piraten scheinen ihr Pulver verschossen zu haben. Niemand rechnet mit großen Überraschungen.

In der Tat scheint der Ausgang dieses Urnengangs ziemlich voraussehbar zu sein. Mehr als hundert Freunde und Bekannte habe ich in den letzten Wochen nach ihren Prognosen gefragt, kein einziger hat geglaubt, dass Angela Merkel abgewählt werden könnte. Der unaufgeregte, pragmatische Führungsstil der Kanzlerin gefällt selbst eingefleischten Linken. Eine sehr politisch interessierte Freundin von mir meinte neuerdings, sie würde nie im Leben CDU wählen, aber "Angie" – wie Merkel im Volksmund genannt wird – sei völlig akzeptabel.

Eine Gesellschaft im Wandel

Wahlplakat der SPD in Neukölln (Foto: DW/Chase)
Wählen gehen: Die Parteien werben um Stimmen und für eine hohe WahlbeteiligungBild: DW/J. Chase

Dabei geht es gerade für Berlin um einiges bei der Wahl. In Nord-Neukölln, wo ich wohne, sind zum Beispiel laut manager-Magazin die Mieten um etwa 60 Prozent in den letzten drei Jahren gestiegen, die Immobilienpreise sollen sogar um mehr als 150 Prozent in die Höhe geschossen sein. In meinem Kiez gab man früher seine Stimme in einer Eckkneipe ab. Jetzt wählt man in einer Schule, denn die Eckkneipe ist längst zum Opfer der Gentrifizierung geworden.

Die Schule war mäßig frequentiert, als ich sie am Sonntagvormittag aufgesucht habe. Taten diejenigen, die wählen gingen, dies aus Pflichtgefühl oder Überzeugung, wollte ich wissen: Also machte ich eine kleine Stichprobe vor dem Eingang zum Wahllokal. All die Befragten antworteten, dass sie ihre Stimmen aus einer Mischung von beiden Gründen abgaben. Ließen sie sich von taktischen Überlegungen leiten? Zum Beispiel ob man eine Fortsetzung der jetzigen konservativ-liberalen Regierung oder lieber eine Große Koalition hätte?

"Nein, irgendwie muss man die Partei wählen, die man am besten findet", antwortete mir eine ältere Dame. "Oder zumindest die Partei, die man am wenigsten schlimm findet".

Die große Frage

Die SPD-Infobox am Hermannplatz in Neukölln (Foto: Chase/DW)
Entspannte Atmosphäre am Wahltag: Die SPD-Infobox am HermannplatzBild: DW/J. Chase

Aber nicht jeder hält das "kleinere Übel" für ein triftiges Argument. In einem kontroversen, viel besprochenen Artikel im "Spiegel" mit dem Untertitel "Warum ich nicht mehr wähle" prangert der Soziologie-Professor Harald Welzer die Wahl als hohle Übung an, in der die Parteien sich inhaltlich kaum voneinander unterschieden. "Keine Idee für die Bewahrung der Demokratie im 21. Jahrhundert findet sich im Angebot der Parteien, weshalb es die Kategorie des kleineren Übels nicht ernsthaft mehr gibt", schrieb Welzer. "Nicht zu wählen ist ein Akt der Aufkündigung des Einverständnisses." Im Vorfeld der Wahl wurde oft vorausgesagt, dass die Wahlbeteiligung auf ein historisches Tief fallen könnte. Ist das Nichtwählen eher ein Phänomen im linken politischen Spektrum, wo Leute von mangelnden Erfolgen enttäuscht sind? Welzer sagt nein.

"Die Resonanz, die ich auf meinen Spiegel-Essay und die Medienauftritte danach bekomme, kommt genauso aus dem konservativen Lager", sagte er gegenüber DW. "Was mich nicht wundert, weil links und rechts ja keine große Rolle mehr spielt, wenn alle irgendwie Sozialdemokraten sind."

Auch in meinem Bekanntenkreis wurde oft und heftig darüber diskutiert, ob man wählen soll und, wenn ja, für wen – obwohl nur die wenigen Welzers Aufruf zum Wahlboykott plausibel finden. Michael, ein 39 Jahre alter IT-Spezialist, kontert zum Beispiel, dass das Nichtwählen das jetzige System tatsächlich unterstützen würde. "Indem du deine Stimme enthältst, gibst du sie de facto dem Gewinner", sagt Michael, der auch glaubt, dass Merkel nach der Wahl Bundeskanzlerin bleiben wird. "Also ist das Nichtwählen Schwachsinn."

Mangelnde Alternativen

Wahlplakat der Grünen in Neukölln (Foto: Chase/DW)
Hochburg für die Grünen: der alternative Kiez in BerlinBild: DW/J. Chase

Viele Bürger sind unglücklich über die politischen Optionen im gesellschaftlichen Mainstream, wissen aber selten, wie man das bestehende System ändern könnte oder sollte. Welzer sieht die politische Misere als ein Phänomen, das "in allen westlichen Demokratien auftritt" und stellt die mögliche "Einführung von Elementen direkter Demokratie, wie in der Schweiz" in Aussicht. Michael schlägt vor, dass man für kleinere Parteien stimmen soll, selbst wenn sie die Fünf-Prozent-Hürde nicht schaffen und seine Stimme dann auf die großen umverteilt wird. Immerhin schicke man ein Signal, meint er

Die Tendenz in Berlin scheint zu sein, dass man immer noch wählen geht, selbst wenn man von keiner der fünf großen Parteien überzeugt ist, weil man schlicht und einfach keine bessere Option sieht. In der Hauptstadt wählen die politisch Enttäuschten nicht nur oft das kleinere Übel. Wählen selbst gilt vielen von denen als kleineres Übel.

Die nächste Generation

Laut Stadtverwaltung gibt es 2013 über 34.000 mehr Wahlberechtigte in Berlin als bei der letzten Wahl im Jahre 2009. Was denken die Menschen in der Hauptstadt, die ihre Stimme zum ersten Mal abgeben? Einer von ihnen ist die 20jährige Studentin Milena. Sie hat ihre politische Entscheidung mit Hilfe des automatischen Beraterprogramms Wahlomat getroffen und sagt, dass für sie die wichtigsten Themen die Umwelt, Bildung und die Abschaffung von Atomenergie seien. Sie weist auch das Klischee von de apolitischen Jugend zurück.

"Ich denke, dass meine Generation politisch sehr interessiert ist und oft nicht wirklich wahrgenommen wird", sagt Milena. "Wenn man daran denkt was für politisch beeinflusste Kriege, Anschläge und dergleichen wir schon miterlebt haben, dann wäre es ja schockierend wenn wir nicht interessiert wären!"

Für Milena und die Mehrheit ihrer Freunde ist es selbstverständlich wählen zu gehen, auch wenn dramatische politische Änderungen unwahrscheinlich sind. "Ich weiß nicht, ob sich dieses Jahr viel verändern wird", meint die 20-Jährige. "Ich hoffe aber, dass sich Jugendliche und Erwachsene weiterhin politisch informieren und interessieren. Dieses Interesse fördert, dass Menschen sich über schlechte politische Führung aufregen und somit Veränderungen und Verbesserungen stattfinden können."

Wie lange dieser Enthusiasmus anhält, wird sich zeigen. Dennoch: Zumindest für die meisten Erstwähler in Berlin bietet die Bundestagswahl 2013 eine willkommene Gelegenheit, sich politisch auszudrücken und an der Demokratie teilzunehmen.