1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
Gesellschaft

"Eigentlich geht es mir unverschämt gut"

Maria Albel | Marion Betjen
21. April 2020

Wie lebt es sich als 81-jährige Alleinstehende in der Corona-Isolation? Die in Berlin lebende Schwedin Maria Albel berichtet vom Alltag zwischen kreativem Zeitvertreib, Krisenkost und Nachbarschaftshilfe.

https://p.dw.com/p/3bAp5
Maria Albel
Bild: DW/M. Betjen

Wie ahnungslos ich war! Anfangs glaubte ich, mein "Corona-Hausarrest" würde vielleicht drei, höchstens vier Wochen dauern. Aber ich begriff nach ein paar Tagen, dass das ein Trugschluss war. Mit 81 Jahren gehöre ich zur Hochrisikogruppe und muss besonders vorsichtig sein. Die Einsicht kam vor dem Spiegel im Badezimmer. Plötzlich sind nicht mehr meine Falten das Problem, sondern die Isolierung wegen eines potenziell tödlichen Virus. Ich mustere die alte Frau im Spiegel. Muss ich es wirklich wochenlang oder gar Monate allein mit mir aushalten? Und das auf nur 47 Quadratmetern? Da kann ich mir ja kaum selbst aus dem Weg gehen. Was also tun, um mir nicht auf die Nerven zu fallen? 
 
Ein bisschen Selbstbetrug könnte helfen. Schon als Kind träumte ich davon, Künstlerin zu sein. Ich bastelte Fantasiewelten aus Karton, Seidenpapier und Knöpfen. Erst als Rentnerin kamen die Künstlerträume zurück. Ich legte mir Farben, Pinsel und Leinwände zu. Viel zu viel, denn als ich vor bald drei Jahren von Rostock nach Berlin zog, kam das Leben dazwischen: Neue Menschen kennenlernen, Cappuccino in Cafés genießen, Kurse besuchen und Ausflüge machen. Mein Lager für Künstlerbedarf wurde zum schlechten Gewissen. Bis jetzt. Nun male ich in meiner Isolation einfach drauf los, spiele mit Farben und Formen, bilde mir ein, das sei Kunst. Und ich habe keine Zeit und Lust mehr, die alte Frau im Spiegel kritisch zu betrachten. 

Maria Albel
Wochenlang leben auf 47 Quadratmetern: Maria Albel gehört zur Hochrisikogruppe und bleibt wegen Corona zu HauseBild: DW/M. Betjen

Kreuzworträtsel und Sardinen 

Morgens trage ich ein bisschen "Comme une Evidence" auf. Das Parfüm hat mir eine Freundin zu Weihnachten geschenkt. Früher habe ich es immer benutzt, bevor ich aus dem Haus ging. Man weiß ja nie, wem man im Café oder Supermarkt begegnet. Jetzt duftet es nur für mich. Ein Muss ist das Kreuzworträtsel vor dem Einschlafen. Leider ist nur noch ein Heft ungelöst. Ich überlege, ob ich es erst mit Bleistift ausfülle, dann radiere und nochmal mit Kuli löse. Ich könnte auch selbst ein Rätsel anfertigen, das wird aber ziemlich frustrierend sein.

Kreuzworträtsel Bleistift
Kreuzworträtsel vor dem Einschlafen sind für Maria Albel ein Muss - jetzt werden sie knappBild: Colourbox

Was braucht eine Risiko-Dame wie ich wirklich in der Isolation? Das erste, was auch mir durch den Kopf schoss, ist Toilettenpapier. Meine Vorräte an Mehl, Milch, Brot und anderen Lebensmitteln reichen noch eine Weile. Ich habe alles ordentlich auf einer Liste erfasst, mit Verfallsdatum, damit am Ende nichts verkommt. Die dicken Sardinen in Rapsöl sind mild im Geschmack. Ich hätte gerne mehr davon. Gerne würde ich auch Brot backen. Schon der Duft beim Backen! Aber als ich eine Nachbarin aus dem vierten Stock bitte, Hefe für mich zu besorgen, erklärt sie, das könne ich vergessen. Hefe sei noch schwieriger zu bekommen als Toilettenpapier. Die Nachbarin schenkt mir Blumen und sagt, ich solle anrufen, wenn ich etwas brauche, oder mir zu langweilig wird. Die Telefonate enden oft mit einem Lachen. 

Den Einkauf erledigen die Nachbarn 

Bevor ich von Rostock in diesen Berliner Neubau zog, warnten mich meine Freunde und Nachbarn vor der Hektik, der Ellenbogen-Mentalität und der Einsamkeit in einer so großen Stadt. Aber als Corona sich auszubreiten begann, boten mir mehrere meiner neuen Nachbarn sofort ihre Hilfe an. Und sie sagten es nicht nur, sie meinten es auch. Manchmal kann ich es kaum glauben, wie viel Glück ich in diesen Krisenzeiten habe.  

Österreich Salzburg | Coronavirus | Nachbarschaftshilfe
In Zeiten der Not wächst auch die HilfsbereitschaftBild: picture-alliance/dpa/picturedesk.com/APA/B. Gindl

Die nette Familie von gegenüber. Ich freue mich, wenn sie samstags klingeln und fragen, ob sie für mich einkaufen können. Aber mit zwei kleinen Mädchen, die jetzt nicht zur Schule gehen können, haben sie sicher genug zu tun. Anna, eine junge Designerin von nebenan, erledigt auch gern Einkäufe für mich. Manchmal ruft sie von unterwegs an, nur um sich zu vergewissern, dass sie das richtige Brot oder den passenden Käse ausgesucht hat. Zu Ostern hat sie mir eins von den Schokoladen-Eiern geschenkt, die ihre Mutter geschickt hatte.

Von so viel Fürsorglichkeit in Corona-Zeiten können meine früheren Nachbarinnen in Rostock nur träumen. Karin und Petra sind mit 82 und 87 Jahren im gleichen Alter wie die meisten anderen Bewohner des Hochhauses, in dem sie leben. Karin und Petra trotzen Corona. Sie gehen selbst einkaufen. Sie sind ja in Rostock, nicht im gefährlichen Berlin, versichern sie mir. Als ob das Corona-Virus diesen Unterschied macht. Vielleicht wollen sie sich so selbst ein bisschen beruhigen.  

Mit Mundschutz an die frische Luft 

So intensiv! Der Frühling ist da. Ich kann es kaum erwarten, endlich etwas Sonnenschein und Blütenpracht zu genießen. Zum ersten Mal seit vier Wochen wage ich es, meine Wohnung für einen kurzen Spaziergang zu verlassen. Am ganz frühen Morgen sind die Straßen in meinem Berliner Kiez noch fast menschenleer. Trotzdem trage ich eine Gesichtsmaske. Davon habe ich jetzt zwei - von meinen beiden selbst genähten Versuchen abgesehen. Die erste Maske hat meine Freundin Sabine genäht. Maske Nummer zwei reichte mir Anna von nebenan von Balkon zu Balkon. Ihre Designer-Maske ist nicht nur schön, sie besticht auch durch perfekte Passform.

Symbolbild - Mundschutz
Mit Mundschutz traut sich Maria Albel jetzt auch auf die Straße - manchmal, des Frühlings wegenBild: picture-alliane/APA/picturedesk/B. Gindl

Trägst Du wirklich einen Mundschutz, wenn Du aus dem Haus gehst? Meine Freundin Frida in Stockholm kann es nicht fassen. In Schweden, wo ich fast 50 Jahre lang gelebt und gearbeitet habe, nimmt man es gelassener mit Corona. Als ich Frida zu Ostern anrief, waren Ansammlungen bis zu 50 Personen immer noch erlaubt. Das Fernsehen zeigte Menschen, die in Cafés und Parks gemeinsam die Sonne genossen. Machen sie sich nichts aus der Statistik, die besagt, dass es in Schweden mit seinen 10 Millionen Einwohnern prozentual mehr Corona-Tote gibt als im acht Mal größeren Deutschland?  

Sorge um die Familie 

Ich bin besorgt, noch viel mehr über die Lage in Spanien. Meine jüngere Schwester Clara und ihr Mann Paolo leben in Valencia. Vielleicht, fragt Paolo, infizieren sich so viele Spanier und auch Italiener, weil sie viel mehr körperliche Nähe mit Familie, Freunden und Bekannten pflegen, mehr als in nördlichen Ländern. Ja, kann sein, antworte ich. Aber denk an die hohen Totenzahlen in London, Paolo. Für Susanne, meine mittlere Schwester, wird das Leben langsam etwas normaler. Susanne wohnt in Wien. Wie jetzt auch in Deutschland dürfen in Österreich einige Geschäfte wieder öffnen. Die Menschen warten mit Masken und Abstand in der Einlass-Schlange. Aber Susanne hat es nicht eilig, ihr Geld auszugeben. In den letzten Wochen hat sie entdeckt, wie entspannend es ist, stundenlang im Garten zu buddeln und Unkraut zu jäten.

Manchmal besuche ich in meiner Fantasie die Feinkost-Abteilung im Berliner KaDeWe, wähle aus der Fülle an Lebensmitteln aus aller Welt aus. Sprotten in Wodka etwa oder doch Kaviar? Nur so als Abwechslung zur Krisenkost. Aber eigentlich geht es mir unverschämt gut. 

Maria Albel wurde in Österreich geboren und verbrachte ihre Jugend im Ruhrgebiet. In Schweden arbeitete sie als Reporterin bei Kleinstadtzeitungen. 2011 zog sie zurück nach Deutschland, seit 2017 lebt sie in Berlin. Albel ist schwedische Staatsbürgerin.