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Politik

Der Kampf gegen die Armut ist nicht vorbei

Michael Knigge rk
9. September 2018

Im Juli erklärte die US-Regierung den Kampf gegen die Armut für "erfolgreich" und "so gut wie beendet". Für die Menschen in früheren Industrieregionen klingt das wie ein schlechter Witz. Aus Kentucky Michael Knigge.

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USA Harlan County in Kentucky
Bild: DW/M. Knigge

Harlan County ist ein wunderschöner Ort, eingekeilt in einem Tal zwischen zwei bewaldeten Bergen in den Appalachen von Kentucky. Er ist aber auch einer der ärmsten Bezirke in den Vereinigten Staaten. Ein Ort, den die Menschen seit Jahrzehnten verlassen.

In seiner Hochphase lebten mehr als 75.000 Menschen hier. Das war 1940, als der Kohlebergbau noch genügend Arbeit bot. Seitdem spiegelt die Bevölkerungsentwicklung den beständigen Rückgang der Kohleindustrie wider. Heute leben hier nur noch rund 27.000 Menschen. Auch sie hätten längst wegziehen können, angesichts von Armuts- und Arbeitslosenquoten, die doppelt so hoch sind wie der nationale Durchschnitt. Viele von denen, die bleiben, kommen kaum über die Runden.

Chelsei Barrs kommt ursprünglich aus Florida, doch sie könnte nicht glücklicher sein, jetzt in Harlan County zu leben. Vor vier Wochen ist sie mit ihrer Verlobten, die aus der Gegend stammt, hergezogen - um einen Neuanfang zu wagen, nachdem es für die beiden in Michigan nicht gut gelaufen war. Barrs fand schnell einen neuen Job in einer Filiale einer nationalen Fast-Food-Kette und ist jetzt auf der Suche nach einer Wohnung.

USA Harlan County in Kentucky
Chelsei Barrs gefällt ihre neue HeimatBild: DW/M. Knigge

"Ich dachte zuerst, es könnte etwas schwierig werden, weil ich nicht von hier bin, und weil ich farbig bin. Ich dachte, ich würde auffallen wie ein bunter Hund, aber ehrlich gesagt hat sich niemand so verhalten", erzählt die Afroamerikanerin. "Ich wurde immer nur nett behandelt."

Negatives Image

Die Appalachen-Region, die größtenteils ländlich und von Weißen besiedelt ist, wurde lange Zeit in der amerikanischen Popkultur und den Medien eher negativ dargestellt - als Heimat meist ungelernter, arbeitsloser und misstrauischer Menschen. Dass die meisten von ihnen im Präsidentschaftswahlkampf für Donald Trump stimmten, weil dieser versprach, die Kohleindustrie wieder aufzupäppeln, brachte ihnen und ihrer Notlage ein bisschen nationale Aufmerksamkeit. Es half aber nicht gerade dabei, diese Vorurteile zu entkräften.

Auch Barrs war deswegen zunächst besorgt, vor allem weil sie und ihre weiße Verlobte in Michigan immer wieder auf Rassismus gestoßen waren. Doch es kam anders. "Viele Leute hier sind die süßesten Menschen, die du jemals treffen wirst. Uns wurden Dienstleistungen angeboten, nach denen wir nicht einmal gesucht hatten, von Menschen, die wir nicht einmal kannten. Das ist einzigartig in dieser Stadt."

Von Harvard nach Harlan

Geoff Marietta stammt aus dem ländlichen Minnesota, besitzt einen Doktortitel aus Harvard und gründete in Boston ein erfolgreiches Software-Startup. Sein Hintergrund unterscheidet sich deutlich von dem von Barrs, doch auch er kam als Außenseiter nach Harlan County und war angenehm überrascht.

USA Harlan County in Kentucky
Geoff Marietta will in Harlan County investierenBild: DW/M. Knigge

"Die Menschen in Harlan County sind die am härtesten arbeitenden Menschen in Amerika", sagt er. "Sie arbeiten weiter, selbst wenn sie davon kaum satt werden." Marietta, dessen Frau aus Ost-Kentucky kommt, entdeckte diese Arbeitsmoral, als er - damals noch in Boston - einige kultursensible Softwareentwickler für Anti-Mobbing-Videospiele suchte, die seine Firma produzierte. Statt Entwickler aus Vietnam anzuheuern, schlugen Freunde der Familie vor, Leute aus Ost-Kentucky einzustellen.

"Ich sagte: 'Cool, lasst es uns versuchen.' Deshalb haben wir 2013 ein Pilotprojekt ins Leben gerufen und vier frischgebackene High-School-Absolventen für sechs Monate eingestellt, die einen Teil der Softwareentwicklung übernehmen sollten. Und sie haben einen phänomenalen Job gemacht. Und da wurde mir klar: 'Oh mein Gott, die Leute hier arbeiten unglaublich hart'."

Zwei Jahre später verkaufte Marietta seine Software-Firma und zog mit seiner Frau und seinen zwei Söhnen von Boston nach Harlan County. Eine Entscheidung, die viele seiner Harvard-Kollegen verrückt fanden. Ein Grund für den Umzug war die Tatsache, dass Marietta und seine Frau nicht Andere dafür bezahlen wollten, ihre Kinder zu erziehen, während sie selbst 80 Stunden die Woche in Boston arbeiteten. Aber der andere Grund war, sagt Marietta, dass er als Unternehmer viel Potential in dieser Region gesehen hat.

Marietta wurde schließlich Direktor der Pine Mountain Settlement School, einem 105 Jahre alten nationalen Wahrzeichen in einem malerischen und extrem abgelegenen Teil von Harlan County. Die Schule war ursprünglich als Internat für Bergarbeiterkinder gegründet worden.

Viele Menschen leiden

Marietta hat die Schule umgekrempelt und sieht sie jetzt als Modell für eine vielfältige Wirtschaft in Ost-Kentucky. Mit seinem Umweltbildungsprogramm lockt er Schüler aus dem ganzen Land dazu, in Exkursionen die Ökologie und die Kultur der Appalachen kennenzulernen. Marietta half außerdem dabei, Mountain Tech Media, ein Mediendienstleistungsunternehmen für Ost-Kentucky, aufzubauen, das auf lokale Talente als Mitarbeiter setzt. Und Ende letzten Jahres ist er zum Präsidenten der Handelskammer von Harlan County gewählt worden.

Marietta ist zwar optimistisch, wenn es um die langfristige Perspektive für Harlan County geht. Blauäugig ist er aber nicht. "Zu sagen, dass der Kampf gegen die Armut vorbei ist, ist fast schon ein grausamer Witz", sagt er und bezieht sich dabei auf einen Bericht des Weißen Hauses vom Juli, in dem erklärt wird, dass der Kampf gegen Armut weitgehend vorbei und ein Erfolg gewesen sei. "Die Menschen leiden", sagt Marietta.

USA Harlan County in Kentucky
Der Rückgang der Kohleförderung hat viele Arbeitsplätze gekostetBild: DW/M. Knigge

Und dazu trügen nicht nur die Arbeitslosigkeit und die Armut bei, fügt er hinzu, sondern auch die Opioid-Epidemie, die die Gemeinde seit Jahren heimsucht. "Clinton, Bush, Obama und jetzt Trump - sie alle haben versagt. Und der Kongress auch."

Zu wenig Arbeit, zu viele Drogen

Mit 54 Todesfällen pro 100.000 Einwohner ist die Gefahr, an einer Überdosis Drogen zu sterben, in Harlan County mehr als doppelt so hoch wie im nationalen Durchschnitt (20). Gleichzeitig ist das Pro-Kopf-Einkommen nicht einmal halb so hoch wie der Landesdurchschnitt. Während es im Jahr 2016 landesweit bei rund 40.000 US-Dollar lag, waren es in Harlan County gerade einmal 12.500 Dollar.

Die düsteren Zahlen erklären, wieso die Innenstadt von Harlan County größtenteils aus einer Ansammlung alter, mit Brettern zugenagelter Schaufenster besteht. Die einzigen Gebäude mit regem Zulauf sind die Kirchen - und die Pfandhäuser. Dies helfe auch zu verstehen, wieso 85 Prozent der Bewohner von Harlan County im Jahr 2016 Trump ihre Stimme gaben, sagt Marietta: "Weil sie sich abgehängt und verletzt fühlen, weil sie verzweifelt sind und hungrig, weil sie leiden und sterben." Und das durchaus im Wortsinn: Kinder, die 2014 in Harlan County geboren wurden, haben eine um sieben bis acht Jahre geringere Lebenserwartung als der US-Durchschnitt, so eine Studie der University of Washington.

USA Harlan County in Kentucky
Viele Geschäfte in der Innenstadt stehen leerBild: DW/M. Knigge

Bei der Wahl zwischen Hillary Clinton, die vielen wie eine Fortsetzung der Obama-Ära erschien - unter der die meisten Bewohner keine Verbesserung feststellen konnten - und "irgendeinem unverschämten Kerl, der zwar in einige Skandale verwickelt war, der aber zumindest das Leid der Menschen anerkannte und versprach, die Kohle wieder stark zu machen", war die Entscheidung für die meisten Menschen klar, sagt Marietta. "Sie würden mit dem Typen gehen."

Kohle ist nicht die Zukunft

Doch die Arbeitsplätze im Kohlebergbau, die über Jahrzehnte verloren gingen, sind bisher nicht nach Ost-Kentucky zurückgekehrt - trotz Trumps Versprechen. Und kaum einer hier glaubt, dass sie es jemals tun werden.

Dan Mosley ist Demokrat und Harlan Countys oberster Verwaltungsbeamter. Sein Vater war Bergarbeiter. Auch deshalb ist Mosley froh, dass hier vor Kurzem eine Mine wiedereröffnet wurde und 150 Leute eingestellt hat. Aber auch er glaubt nicht, dass die Zukunft der Gemeinde in der Rohstoffgewinnung liegt. 

USA Harlan County in Kentucky
Dan Mosley - vom Banker zum Bezirks-ManagerBild: DW/M. Knigge

Mosley führte ein angenehmes Leben als Banker, bevor er vor vier Jahren beschloss, seiner Stadt zu helfen. "Ich hatte Kunden, die zur Bank kamen, die ihre Schlüssel hinwarfen und sagten: 'Ich muss gehen, ich kann nicht länger bleiben, ich kann meine Hypothek nicht bezahlen, ich kann mein Auto nicht bezahlen, ich muss irgendwo Arbeit finden. Ich werde mein Haus zum Verkauf anbieten, wenn es sich jemand ansehen will, würdest du es ihm zeigen?' Da habe ich mir gesagt, ich kann hier nicht länger sitzen und nichts dagegen tun."

Seit Mosley zum Bezirks-Manager gewählt wurde, hat er eine Behörde zur Wirtschaftsförderung geschaffen, um einen Plan zu entwickeln, wie man auch Unternehmen, die nicht aus dem Bergbau stammen, dazu gewinnen kann, in die Region zu investieren.

Investieren in die Appalachen

"Unser größtes Problem ist, dass es nie eine Diversifizierung der Wirtschaft gegeben hat", sagt Mosley. Aber um Unternehmen anzuziehen, brauche Harlan County vor allem mehr Investitionen in die Verkehrsinfrastruktur.

Die Hauptstraße, die durch Harlan County führt, ist die US 119, eine zweispurige Autobahn, die es für LKW schwierig und langwierig macht, dorthin zu fahren. Für die meisten Kohleunternehmen, die ihr Produkt nur vom Bergwerk per Bahn zum Kraftwerk liefern müssen, ist das kein Problem - für die meisten anderen Branchen schon.

Aber glaubt Mosley, dass die Menschen in Harlan County, deren ganzes Leben und deren ganze Kultur sich über Generationen um den Kohlebergbau gedreht haben, überhaupt in andere Berufszweige wechseln könnten, wenn sie die Gelegenheit dazu hätten?

"Denken Sie darüber nach: Sie kriechen in einen Berg und sehen nie das Tageslicht, um für ihre Familien zu sorgen. Stellen Sie sich vor, was sie für ein Unternehmen tun könnten, das ihnen einen angemessenen Lohn mit anständigen Arbeitszeiten und Sozialleistungen zahlt. Diese Leute sind fleißige Leute und werden ein Unternehmen durch ihre Arbeitsmoral groß machen", sagt Mosley. "Die beste Investitionsmöglichkeit in Amerika gibt es in den Appalachen."

Während das sehr nach einem Politiker klingt, der mit seiner Gemeinde prahlt, um wiedergewählt zu werden, glaubt Colby Kirk, dass es tatsächlich wahr ist. Er fing vor kurzem an, für die Region als Wirtschaftsentwickler zu arbeiten und legt Zahlen vor, die zeigen sollen, dass Harlan County doch ein attraktiver Ort für Investitionen ist.

Fachkräfte - ohne Zertifikat

Das größte Problem der Region sei ihr Ruf, weitgehend ungelernte Arbeitskräfte zu besitzen. Aber das sei nicht wahr, sagt Kirk und verweist auf eine aktuelle Studie.

Harlan County in Kentucky
Colby Kirk glaubt an die Menschen von Harlan CountyBild: DW/M. Knigge

"Aus reiner Datensicht sieht es so aus, als hätten wir ungelernte und ungebildete Arbeitskräfte", sagt Kirk. "Aber die Realität ist, dass viele Leute seit Jahren qualifizierte Tätigkeiten ausüben, ohne über die entsprechenden Zeugnisse zu verfügen. Das ist eine der aufregenden neuen Erkenntnisse, die meiner Meinung nach die Situation in Ost-Kentucky verändern wird."

Das Ziel sei nun, diese Menschen in Schnellprogrammen zu zertifizieren und die Unternehmen wissen zu lassen, dass sie hier sind. Mit einer boomenden Wirtschaft und vielen Unternehmen in den USA, die Mühe hätten, Mitarbeiter zu finden, so Kirk, sei diese Gegend eine der wenigen in Amerika mit verfügbaren und qualifizierten Arbeitskräften. "Unsere Region wurde nie auf diese Weise vermarktet. Aber wir haben hier beispielsweise achtmal so viele Schweißer und Maschinisten wie der Rest des Landes."

Mehr Menschen brauchen Unterstützung

Die Zukunft mag für Harlan County vielversprechend aussehen, aber die Gegenwart bleibt düster. In einem Lagergebäude neben den Bahngleisen, nur einen Steinwurf von der Innenstadt Harlans entfernt, bereiten Bryan Toll und ein Team von Freiwilligen täglich Mahlzeiten für die Hungrigen zu. Toll betreibt Christ's Hands, eine gemeinnützige christliche Organisation, die eine Tafel eingerichtet hat und Teil des landesweiten Lebensmittelvertriebsnetzes ist. In dieser Nacht sind zwei Dutzend Männer vorbeigekommen, um sich mit einer ordentlichen Mahlzeit zu versorgen. Und das Problem sei in den letzten Jahren nicht besser, sondern schlimmer geworden - wenn man die Zahl der Menschen betrachte, die er und seine Gruppe bedienten, so Toll.

USA Harlan County in Kentucky
Bryan Toll ist besorgt angesichts der wachsenden Zahl von Menschen, die nicht genug zu essen habenBild: DW/M. Knigge

"Es werden wirklich immer mehr. Früher hatten wir Leute, die hierher kamen, um zu helfen und zu spenden, und jetzt können sie es nicht mehr, weil sie die Hilfe selbst brauchen. In dem Vertriebsnetz, das wir unterhalten, gibt es zwischen 700 und 5.000 Lebensmittelboxen pro Monat, nur in Harlan County."

Toll, der in Harlan County als Sohn christlicher Missionare aus Indiana aufgewachsen ist, hat keine Ideen, wie man die Armutskrise in Harlan County und Ost-Kentucky bewältigen kann. Stattdessen versucht er, so vielen Menschen wie möglich zu helfen - einem nach dem anderen. "Die Leute hier sind nett, sie sind wunderbar", sagt er.