Die trunkene Alte
1. September 2024Der Werderplatz in Karlsruhe ist ein Treffpunkt für Obdachlose, die sich dort um den "Indianerbrunnen" versammeln. Meist ist es eine friedliche Szene, selten kommt es, unter Alkoholeinfluss, zu aggressivem Verhalten. Als Passant wird man schon Mal um ein, zwei Euro gebeten und es ergibt sich ein Small-Talk. Dabei hatte ich neulich eine bemerkenswerte Begegnung: Im Verlauf der Unterhaltung mit einem dieser sogenannten "Penner" kam die Frage nach meinem Beruf auf. Sie war mir an der Stelle eher unangenehm; jedenfalls erhoffte ich mir von meinem Gegenüber nicht gerade viel Verständnis für meine Tätigkeit als Lehrerin für katholische Religion und Altgriechisch. Allerdings wurde ich schnell eines Besseren belehrt: "Andra moi ennepe, Musa …", rezitierte er ohne Zögern die ersten Verse der Odyssee, in denen der Dichter Homer die Gottheit um Inspiration bittet. Dann sah er mich prüfend an und fragte streng: "Wie geht’s weiter?"
Solche verblüffenden Begebenheiten kann man nicht nur auf den Straßen der Stadt erleben, sondern auch bei einem Gang durchs Museum. Mit der Skulptur der "Trunkenen Alten" (Abbildung s.o.), die man in München in der Glyptothek besichtigen kann, habe ich eine vergleichbare Geschichte erlebt.
Sie findet sich in zahlreichen Bildbänden zur Kunst der alten Griechen, da sie exemplarisch für den Realismus der hellenistischen Kunstepoche steht. Im Hellenismus rückte man nämlich ab von der Idealisierung des schönen Körpers, wie das in der klassischen griechischen Kunst üblich war, und wandte sich stattdessen dem Individuum zu. Dementsprechend sah ich bis vor kurzem in besagter Statue eine Vertreterin der unteren sozialen Schicht dargestellt, die, vom Leben enttäuscht und dem Alkohol verfallen, irgendwo am Straßenrand kauert. Im Arm hält sie die Weinflasche, von der sie nicht lassen kann.
So war mein unhinterfragtes Bild, bis ich über einen Podcast Informationen erhielt, die für mich die "Alte" in neuem Licht erscheinen ließen, und ich dann mal genauer hinschaute. So arm, wie sie auf den ersten Blick erscheint, ist sie nämlich nicht: Die Statue trägt Ringe an den Fingern und die Ohrlöcher sind ein Indiz für weiteren Schmuck. Das Untergewand mit den schmalen Trägern zeugt von vornehmer Eleganz, ebenso der Wollmantel und die kunstvolle Frisur. All dies erschließt sich erst bei genauem Betrachten von allen Seiten.
Der wichtigste Hinweis auf die Deutung des Kunstwerks ist allerdings die Efeuranke, die ihre Weinflasche ziert - ein Attribut des Weingottes Dionysos. Von den Wissenschaftlern wird vermutet, dass die Statue in einem Dionysos-Tempel aufgestellt war, um dort - wie in einem Spiegel - nicht den Gott selbst, sondern seine Präsenz und Wirkung zu zeigen, der sich kein Mensch entziehen kann - nicht einmal eine wohlsituierte, in Würde gealterte Dame.
Könnte man die steinerne Lady interviewen, so würde sie vermutlich begeistert von ihrer mystischen Gotteserfahrung berichten. Und dem Zuhörer offenbarte sich eine Gedankentiefe, die er hinter der Fassade einer abgelebten alten Pennerin nicht vermuten würde.
Wie schnell stecken wir andere Menschen aufgrund von Äußerlichkeiten gedanklich in eine Schublade! Das haben mir die beiden Begegnungen wieder einmal vor Augen geführt. Und auch, dass ich die Chance habe, mich überraschen und wirklich beschenken zu lassen, wenn ich offen bin; offen und erwartungsfroh, dass ich etwas Neues lernen, etwas Wesentliches erfahren kann.
Inspiration und Vorbild ist mir als Christin dafür Jesus Christus selbst, mit seiner entschlossenen Zuwendung zu den Menschen am Rand der Gesellschaft und seiner Bereitschaft, das eigene Schubladendenken aufbrechen zu lassen: Wie zum Beispiel in der Episode mit der syrophönizischen Frau, einer Fremden, die bei ihm einen Lernprozess auslöst und seinen Horizont erweitert, über die Denkmuster seiner kulturellen Herkunft hinaus. Ganz menschlich erscheint Jesus in dieser Geschichte (Mt 15,21-28).
Mit welchem Blick hätte er wohl die trunkene Alte angeschaut oder den Odyssee-Kenner vom Werderplatz? Zu welchen Worten wäre es gekommen und - wer weiß - zu welchen Wundern?
Und was würde sich ändern - in unserem Leben, in unserer Gesellschaft - wenn wir uns in dieser Haltung ausprobieren? Dafür braucht es natürlich eine Portion Mut, oder eigentlich drei:
Mut, um auf andere zuzugehen.
Armut, um uns von anderen bereichern zu lassen.
Demut, um den ganz Anderen in unserem Leben wirksam werden zu lassen.
Nur Mut!
Vita:
Claudia Klant, Jahrgang 1971, hat katholische Theologie und klassische Philologie in Tübingen und Wien studiert. Sie arbeitet als Lehrerin und Schulseelsorgerin an einem Karlsruher Gymnasium, ist verheiratet und hat drei Kinder. Ehrenamtlich engagiert sie sich als Pfarrgemeinderats-Vorsitzende und im Prozess der lokalen Kirchenentwicklung. Dabei ist ihr das Thema Klimaschutz ein wichtiges Anliegen. Inspiration und Erholung findet sie im Musikmachen und Musikhören, auf Reisen (am liebsten mit dem Rad) und in der Natur.
Dieser Beitrag wird redaktionell von den christlichen Kirchen verantwortet.