Die Selbsterfindung einer Ikone
5. Mai 2010Über 100 kleine Bände füllte Susan Sontag bis zu ihrem Krebstod 2004. Ihr Sohn David Rieff bringt diese intimen Notizen nun heraus – in einer Tagebuchtrilogie. Bis 2013 soll jedes Jahr ein Teil erscheinen. "Wiedergeboren" heißt der erste Band und erzählt von den Anfängen der großen Essayistin.
Unsicherer Teenager
Zweifel durchziehen dieses Buch. Hadern immerzu mit sich und der Welt. Bin ich klug genug, schön und begehrenswert? Von der späteren Intellektuellen, der selbstbewussten Denkerin ist hier noch nichts zu spüren.
Wiedergeboren – das sind die frühen Tagebücher der Susan Sontag, bevor sie Susan Sontag wurde. Jene amerikanische Geistesikone – stets mit einer weißen Strähne im pechschwarzen Haar, die Krankheit als Metapher entlarvte, über Photographie genauso luzide schrieb wie über Trash. Der erste Teil ihrer Tagebuchtrilogie beginnt mit dem Jahr 1947, da war Susan Sontag gerade mal 14 Jahre alt.
Ich bin kurz davor, wahnsinnig zu werden. Manchmal gibt es Momente, in denen ich über einem bodenlosen Abgrund dahintaumele.
Hungrig nach Wissen
Ein Mädchen, das so gar nicht passt in die Vorstadtidylle Amerikas. Susan Sontag träumt sich weg in die geistige Mitte Europas. Bücher werden zu ihrem intellektuellen Anker. Platon, Hegel, Rilke – pedantisch notiert sie seitenlange Lektürelisten, zählt Fremdwörter auf, kommentiert altklug ihren Kulturmarathon.
Der Zauberberg ist der beste Roman, den ich je gelesen habe. Das friedvolle und meditative Vergnügen, das es mir bereitet, sind einzigartig.
Lebensdurst und Selbsthass
Ein Jahr später besucht Susan Sontag den von ihr so verehrten Thomas Mann. Und ist doch enttäuscht. Der Literaturgott entpuppt sich als alter Mann mit weihevollen Lebenssprüchen. Genau in diesem Spannungsfeld zwischen Vorstellung und Realität changiert Susan Sontags Leben. Sie entdeckt ihr Lesbischsein, zelebriert ihr sexuelles Erwachen, und doch heiratet sie mit 17 ihren Professor.
Wer immer die Ehe erfunden hat, war ein genialer Folterer. Die Ehe ist eine Institution, deren Ziel und Zweck, die Abstumpfung der Gefühle ist.
Blinde Flecken
Einen Sohn bekommt Susan Sontag, da ist sie gerade 19. Später wird sie ihn für ein Bohemien-Dasein in Paris verlassen. Die Geburt, das Ende der Ehe – das alles wird nur beiläufig erwähnt. Im Gegensatz zu ausschweifenden Analysen über Kant, Nietzsche & Co.
Das, was Susan Sontag weglässt, die Widersprüche, machen ihre Tagebücher so herausragend. Plötzlich erkennt man die frühe Streberin, sieht die egoistische Rabenmutter. Und dennoch verliert sich beim Lesen nichts von der Faszination für diese Frau. Denn Susan Sontag ist selbst ihre größte Kritikerin.
Ich habe wirklich kein feines Gespür für andere Leute, ihre Gedanken und Gefühle, wobei ich mir sicher bin, dass ich durchaus empathisch und intuitiv sein kann.
Die öffentliche Frau
Sie bombardiert sich mit Appellen wie "mehr lesen, weniger lachen" und erschafft sich mit einer gnadenlosen Härte ein zweites, öffentliches Ich. Wiedergeboren, der erste Tagebuchband, endet 1963, da ist Susan Sontag kurz vor ihrem großen Durchbruch als Essayistin.
"Schreiben heißt, sich vergeuden, sich riskieren."
notiert sie, schillernd nach außen und doch erschreckend einsam. Ob die Vorzeigeintellektuelle gewollt hätte, dass man ihr hinter diese Fassade schaut, ihre fragile Seele dahinter erblickt? "Du weißt, wo die Tagebücher sind", soll Susan Sontag ihrem Sohn auf dem Sterbebett geflüstert haben. War es eine Aufforderung, diese nach ihrem Tod zu veröffentlichen? Oder wollte sie vielleicht, dass er die intimen Notizen für immer vernichtet? Wir werden es nie erfahren.
Autorin: Aygül Cizmecioglu
Redaktion: Gabriela Schaaf
Susan Sontag: Wiedergeboren. Hrsg. v. David Rieff. Hanser Verlag 2010. 380 Seiten. 24,90 Euro