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PolitikEuropa

EU will Verteidigung neu denken

Barbara Wesel
10. März 2022

Der Krieg in der Ukraine wird als Bedrohung der europäischen Sicherheitsordnung gesehen. Die EU-Staats- und Regierungschefs beraten beim Gipfel in Versailles über eine neue, autonomere Verteidigungsstrategie.

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Litauen | Bundeswehrsoldaten des Nato-Gefechtsverbandes in Rukla
Deutsche Bundeswehrsoldaten eines NATO-Gefechtsverbandes in Litauen - künftig will auch die EU Soldaten schneller mobilisieren und verlegen könnenBild: Mindaugas Kulbis/AP/dpa

Gastgeber Emmanuel Macron hatte es schon immer gefordert: Europa müsse autonomer werden und mehr Verantwortung für die eigene Verteidigung übernehmen. Aber der französische Präsident fand für seine Vision wenig Abnehmer. Wenn er jetzt in Versailles seine EU-Kollegen empfängt, hat sich der Wind in seinem Sinne gedreht. Denn der Krieg in der Ukraine führt zu einer  grundlegenden Neubewertung der europäischen Sicherheitsstrategie.

Der Krieg in Europa verändert alle Grundlagen

Schon im Januar, während des russischen Truppenaufmarschs an den Grenzen der Ukraine aber noch vor der Invasion, sprach sich eine Mehrheit der europäischen Bevölkerung dafür aus, dass Europa auf diese Bedrohung der gemeinsamen Sicherheit eine Antwort finden müsse. Eine Umfrage der Denkfabrik ECFR (European Council on Foreign Relations) zeigt, dass die Bürger sowohl von der NATO als auch von der EU erwarten, dass sie Europa schützen.

"Diese Krise wird die Bereitschaft der Europäer auf die Probe stellen, die gemeinsame Sicherheitsordnung zu verteidigen", schreiben Mark Leonard und Ivan Krastev. Denn sie stellen auch fest, dass die Bereitschaft, den Preis dafür zu zahlen, in den Mitgliedsländern sehr unterschiedlich ausgeprägt ist. Während etwa in Polen die Menschen bereit sind, große Einschränkungen für ihre Sicherheit hinzunehmen, wollen Deutsche und Italiener nicht so gern Abstriche machen.

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Emmanuel Macron fordert schon seit längerem eine autonomere EU-VerteidigungspolitikBild: Benoit Tessier/AP Photo/picture alliance

Auf dieser Basis müssen die Regierungschefs in Versailles eine gemeinsame Strategie vereinbaren, die sowohl der neuen Bedrohungslage gerecht wird als auch Zustimmung in den Mitgliedsländern findet. Unter dem Druck von Russlands Krieg in der Ukraine wurde jedenfalls das lange vorbereitete Strategiepapier zu "Sicherheit und Verteidigung in der EU" grundlegend überarbeitet, von 34 auf 41 Seiten erweitert und in Ton und Ausrichtung verschärft. 

Ein Quantensprung bei Verteidigung und Sicherheit? 

"Die Rückkehr des Krieges nach Europa wie auch große geopolitische Veränderungen fordern unsere Fähigkeit heraus, unsere Vision zu verbreiten und unsere Interessen zu verteidigen", heißt es in dem gemeinsamen Dokument, das in Versailles auf dem Tisch liegt. "Die zunehmend feindliche Sicherheitsumgebung fordert von uns einen Quantensprung nach vorn, unsere Fähigkeit und Bereitschaft zum Handeln zu erhöhen, unsere Widerstandskraft zu stärken und Solidarität wie gegenseitige Unterstützung sicherzustellen".

Zum ersten Mal könnte sich damit die EU zu einer aktiven Sicherheitspolitik und dem Schutz ihrer Mitgliedsländer bekennen, was in dieser deutlichen Form vor allem auf Druck einiger östlicher Staaten zustande kam. So wie etwa die estnische Ministerpräsidentin Kaja Kallas jetzt erneut vor dem Europaparlament forderte, dass die EU neben Sanktionen und der Abkoppelung von russischen Energielieferungen auch die gemeinsame europäische Verteidigung stärken müsse. "Wir müssen uns auf Fähigkeiten konzentrieren, die für einzelne Mitgliedsländer zu teuer in der Entwicklung sind. Das Ausgabenziel von zwei Prozent (für Verteidigung) muss absolute Minimalforderung sein". 

Rostov Russland Ukraine Krieg Panzer und Soldaten
Der russische Angriffskrieg in der Ukraine wird von der gesamten EU scharf und einhellig verurteiltBild: Stringer/TASS/dpa/picture alliance

Russland wird in der gemeinsamen Gipfel-Erklärung in scharfen Tönen verurteilt: Moskaus Aktionen seien "unprovoziert und ungerechtfertigt" und zeigten die Bereitschaft, "das größte Maß an militärischer Gewalt einzusetzen, ungeachtet von humanitären Rücksichten, verbunden mit Cyberattacken, der Manipulation von Information und Einmischung im Ausland, Erpressung mit Energielieferungen und einer aggressiven nuklearen Rhetorik". Die EU hat endgültig die Samthandschuhe gegenüber Wladimir Putin ausgezogen.

Gleichzeitig bekennen sich die Europäer zu ihren internationalen Partnern etwa in den G7, bekräftigen die Zusammenarbeit mit der NATO und erinnern an die Sicherheitsgarantien des Bündnisses. Dabei wird Russland auch für seine Eimischung in anderen internationalen Krisenherden kritisiert, etwa in Libyen, Mali oder Syrien, wo Moskau Krisen opportunistisch und zu eigenen Zwecken ausnutze, Desinformationskampagnen und Söldnergruppen einsetze, wie etwa die Wagnergruppe. 

Was folgt aus den starken Worten?

Die EU hat bereits eines ihrer Tabus gebrochen, und aus dem Etat für die "europäische Friedensfazilität" EPF 500 Millionen Euro für Waffenlieferungen an die Ukraine freigegeben. Dieses Budget soll auch künftig genutzt werden, um im Krisenfall Militärhilfe leisten zu können.

Nach Deutschlands dramatischer Wende bei den eigenen Verteidigungsausgaben heißt es jetzt auch im EU-Rahmen, es sei dringlich, "mehr Geld für bessere Verteidigung auszugeben" und diese Ausgaben zwischen den Mitgliedsländern und auf EU-Ebene zu koordinieren. Bis Mitte des Jahres soll die Kommission in Brüssel neue Anreize für solche gemeinsame Rüstungsvorhaben erarbeiten. Zuletzt hatte sie vorgeschlagen, etwa die Mehrwertsteuer für Rüstungsgüter abzuschaffen, die innerhalb der EU gekauft werden. 

Niederlande Premierminister Mark Rutte
Weitere EU-Schulden für mehr Verteidigung? Der niederländische Premierminister Mark Rutte ist bislang strikt dagegenBild: Victoria Jones/empics/picture alliance

Und schließlich wollen die Europäer auch ihre Fähigkeiten in der Logistik überprüfen: Der Transport und die schnelle, nahtlose Verlegung von Soldaten, Material und Ausrüstung über Grenzen hinweg solle verbessert werden, auch das in Zusammenarbeit mit der NATO. Das sind Fähigkeiten, von denen nur wenige in Europa erwartet hatten, dass sie auf so schockierende Weise wichtig werden würden.

Es wird Streit geben

Bisher hat der Wettbewerb zwischen Mitgliedsländern gemeinsame Rüstungsvorhaben in der EU häufig gelähmt. Es ging mehr um die Kontrolle über Projekte und die wirtschaftlichen Vorteile für die eigenen Unternehmen als um die gemeinsame Sache. Und obwohl die meisten EU-Mitglieder auch in der NATO sind, gibt es auch dort Konkurrenzen. Der starke Einfluss der USA auf Entscheidungen für Waffensysteme und strategische Prioritäten müsste mit den Wünschen der Europäer stärker in Einklang gebracht werden. Das wird schwierig, denn dahinter stehen milliardenschwere Projekte und Tausende von Arbeitsplätzen.

Und schließlich: Kann sich die EU dazu durchringen, nach dem Erfolg des Corona-Wiederaufbaufonds erneut mit massiven Anleihen-Verkäufen Geld aufzunehmen, um die notwendigen Milliardensummen für Verteidigung und den Umbau der Energiewirtschaft aufzunehmen? Die üblichen Verdächtigen, allen voran die Niederlande, haben schon abgewunken und halten solche Ideen für verfrüht. Man müsse zur sparsamen Haushaltsführung zurückkehren. Hier entsteht eine neue Front für interne Kämpfe in der EU, denn ohne zusätzliches Geld dürfte es schwierig werden, die riesigen neuen Aufgaben zu bewältigen.