Die fünfte Wahl innerhalb von vier Jahren
31. Oktober 2022Benjamin Netanjahu steckt im Wahlkampf: An den meisten Abenden steht Israels früherer Ministerpräsident auf der Ladefläche seines "Bibi-Buses" hinter schusssicherem Glas und spricht zu potenziellen Wählern.
An diesem Morgen signiert "Bibi", wie ihn seine Anhänger gerne nennen, in einem Buchladen in einem Einkaufszentrum der Küstenstadt Netanja seine gerade veröffentlichte Autobiographie "Bibi: My story" (Bibi: Meine Geschichte).
Netanjahu ist mittlerweile 73 Jahre alt. Niemand hat Israel so lange als Ministerpräsident regiert wie er. Und wahrscheinlich gibt es auch seit Jahren keinen Politiker im Land, der stärker polarisiert, indem er Ängste vor äußeren und inneren Feinden schürt, politische Gegner als Feinde Israels bezeichnet und - nicht zuletzt - weil er in drei Fällen wegen Korruption vor Gericht steht. Doch Netanjahu kann nach wie vor auf eine breite Wählerbasis zählen.
Liberalismus versus Nationalismus
Wie frühere Wahlen wirkt auch die am 1. November anstehende, als sei sie vor allem ein Referendum darüber, ob Netanjahu, Chef des Likud, der größten konservativen Partei des Landes, wieder an die Macht gelangt oder nicht. Nach den bisher letzten Wahlen im März 2021 hatte eine breitgefächerte Koalition die Regierung übernommen, die vor allem eines verband: Netanjahu aus dem Amt zu drängen.
Nun scheint seine Rückkehr möglich. Doch Wahlumfragen zeigen ein deutliches Erstarken der extremen Rechten. Auf sie wird der Likud angewiesen sein, um eine - rechts-ultra-orthodoxe - Regierungskoalition zu bilden,
"Bei diesen Wahlen geht es um Liberalismus versus Nationalismus. Die großen Ideen werden durch zwei Personen verkörpert, Liberalismus durch Lapid und sein Lager, und der Nationalismus durch Netanjahu und sein Lager", sagt Maoz Rosenthal von der Lauder School for Government, Diplomacy and Strategy am Interdisziplinären Zentrum (IDC).
Gescheiterte Regierung kämpft um Macht
Für Israelis ist es die fünfte Wahl innerhalb von vier Jahren. Im Juni kam das Aus für Israels ungewöhnliche Regierung. Die Koalition hatte aus acht ideologisch sehr unterschiedlichen Parteien vom rechten bis zum linken Lager sowie einer arabischen Partei bestanden, und nach gut einem Jahr an der Macht ihre hauchdünne Mehrheit in der Knesset verloren.
Nun leitet Jair Lapid die Übergangsregierung. Als Chef der liberalen Partei Jesh Atid war er einer der Architekten der gescheiterten Koalition. Auch er will zurück in die Regierung. Bei einer Wahlkampfveranstaltung im Kibbutz Afek im Norden Israels, stellt sich der geschäftsführende Premier den Fragen der Menschen. Die hohen Lebenshaltungskostens sowie Themen rund um Religion und Staat beschäftigen hier viele Wähler. Der Konflikt mit den Palästinensern und die Klimakrise sind seltener Thema in diesem Wahlkampf.
Seine Anhänger hier habe Lapid überzeugt, sagt die 78-jährige Dalia Grau nach der Veranstaltung. Sie hoffe, dass sich Lapids ruhigerer, anti-populistischer Politikstil als Ministerpräsident durchsetzt. "Wir wollen Ruhe, seine Partei, diese letzte Regierung, hat uns Ruhe vermittelt."
Kopf-an-Kopf-Rennen bis zuletzt
Trotz zahlreicher Umfragen ist der Wahlausgang kaum vorherzusagen. Am Freitagabend strahlten die israelischen TV-Sender die Ergebnisse der letzten Umfragen vor der Wahl aus: Demnach bliebe der Likud stärkste Partei mit 31 Sitzen, würde aber Stimmen an den rechtsextremen Koalitionspartner Religious Zionism verlieren.
Netanjahus und der ultra-rechts-religiöse Parteienblock behielten zwar einen leichten Vorsprung vor die Liberalen um Lapids Yesh Atid. Mit 60 der insgesamt 120 Sitze würde der Koalition jedoch ein Sitz fehlen, um die notwendige Mehrheit in der Knesset zu erhalten.
Lapids Yesh Atid wäre zweistärkste Partei mit 24 bis 27 Sitzen. Er dürfte aber größere Probleme haben als Netanjahu, eine Koalition zu bilden, weil einigen der möglichen Partner droht, an der Wahlhürde von 3,25 Prozent zu scheitern. Lapids aktueller Koalitionsblock käme den Umfragen zufolge auf 56 Sitze. Die übrigen vier entfielen auf Chadasch-Ta'al, die wohl keine der Koalitionen unterstützen würde.
Auch die Wahlbeteiligung, insbesondere der arabischen Bevölkerung Israels, die rund 20 Prozent der Bevölkerung ausmachen, steht im Fokus. Ihre Stimmen könnten vor allem Lapids rechts-mitte-links-Block zugutekommen.
Rechtsextreme auf Höhenflug
Netanjahu hingegen braucht die Stimmen der rechtsradikalen Partei Religious Zionism. Ihr Aufstieg und der von Itamar Ben-Gvir, der Nummer zwei des Bündnisses, haben für viele Schlagzeilen gesorgt.
Ben-Gvir ist seit langem bekannt für seine extremistischen Ansichten und rassistische Hetze. Mehrfach wurde er dafür bereits vor Gericht angeklagt und in zwei Fällen verurteilt. Der 46-jährige Rechtsanwalt gilt als früherer Anhänger des rechtsextremen Rabbiners Meir Kahane, dessen Kach-Partei von Israel, der EU und den USA als Terrororganisation eingestuft wird. Doch mittlerweile scheint Ben-Gvir in größeren Kreisen salonfähig geworden zu sein. Seit 2021 ist er Parlamentarier der Knesset. Nun könnte aktuellen Umfragen zufolge Religious Zionism mit bis zu 14 Sitzen drittstärkste Partei in israelischen Parlament werden.
"Die Rechtsextremen wären damit das erste Mal in wirklich einflussreichen Positionen", sagt Politologe Rosenthal. Zwar bewege sich Israel seit vielen Jahren immer weiter nach rechts, sagt Rosenthal, und doch wäre ein solcher Wahlerfolg von Religious Zionism ein Novum: "Wir sprechen hier von Nationalisten, Anti-Liberalen, Leuten die geschworen haben, die Unabhängigkeit der Gerichte einzuschränken und die sich voll und ganz den jüdischen, religiösen Werten verschrieben haben."
Proteste für und gegen die Ultrarechten
Bei einer Wahlkampfveranstaltung in Tel Aviv sind an diesem Abend Anhänger und Gegner von Ben-Gvir gekommen. Sie stehen sich lautstark mit Megaphonen auf der schmalen Straße vor dem Veranstaltungsort gegenüber, jede Seite abgeschirmt von Polizisten.
Eli Jaish, 22 Jahre alt, unterstützt den extremistischen Politiker: "Bevor ich bei der Armee war, habe ich auf der anderen Seite der Straße gestanden. Meiner Meinung nach ist Ben-Gvir eine reale Person, im Gegensatz zu vielen Personen in der Knesset. Er gibt alles für unser Land, anders als diese Fake-Leute."
Ben-Gvir hat in diesem Wahlkampf seine scharfe Rhetorik zwar etwas gedämpft. Frühere homophobe Aussagen hat er mittlerweile abgemildert, rassistische Aufrufe nicht. Erst vor kurzem war er wieder in dem Ostjerusalemer Viertel Scheikh Jarrah, um dort wohnende jüdische Siedler zu unterstützen. Bei Auseinandersetzungen zog er eine Pistole und kritisierte die Polizei, dass sie auf "arabische Terroristen" zielen sollten, die Steine werfen. Sein Parteiprogramm sieht unter anderem die Annexion des gesamten Westjordanlands vor.
Die ersten Wahlergebnisse werden am Dienstag um 22 Uhr Lokalzeit erwartet. Sie geben einen ersten Hinweis darauf, wohin sich das Land bewegen könnte.