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Deutsche Knigge-Regeln nach der Pandemie

Louisa Schaefer
29. März 2023

Die Deutschen waren Weltmeister im Händeschütteln, doch das hat sich durch die Pandemie gründlich geändert. DW-Redakteurin Louisa Schaefer, ursprünglich aus den USA, fragt sich, ob die typisch deutsche Geste zurückkehrt.

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Zwei Hände mit Handschuhen
Schütteln die Deutschen nach drei Jahren Pandemie wieder fleißig Hände?Bild: Falkenstein/Bildagentur-online/picture alliance

Vor ein paar Wochen hatte ich einen Arzttermin in Köln ... und staunte nicht schlecht, als der Arzt mir beim Betreten des Raumes als erstes die Hand entgegenstreckte. Leicht fassungslos fragte ich ihn, ob man das denn nun wirklich wieder tun könne. Er lachte und antwortete: "Das müssen wir wieder tun können!" Okay, als Orthopäde hat er sowieso eine eher zupackende Herangehensweise, aber immerhin trug ich ja noch eine FFP2-Gesichtsmaske, und das gab mir zu denken.

Als ich die Praxis verließ, wurde mir aber klar, dass mir die Geste seines Händedrucks und seine launige Antwort auf meinen Scherz gut getan hatten. Was mir auf dem Heimweg durch den Kopf schoss, war der Gedanke "Noch eine Sache, die wieder halbwegs normal ist!" Die Frage ist nur: Wollen wir wirklich, dass die Dinge wieder "völlig" normal werden?

Weltmeister im Händeschütteln

Erst da wurde mir klar, was die Aufhebung der letzten Corona-Schutzmaßnahmen in den vergangenen Monaten in Deutschland bedeutet (obwohl zum Zeitpunkt dieser Veröffentlichung immer noch Masken für Besucher von Krankenhäusern, Pflegeheimen, Arztpraxen und anderen Gesundheitseinrichtungen vorgeschrieben sind).

BG: Adel
Total normal? Händeschütteln in DeutschlandBild: Svyatoslav Lypynskyy/Zoonar/picture alliance

Für die DW-Serie "Meet the Germans" schrieb ich 2019 einen Artikel über deutsche Umgangsformen und darüber, dass die Deutschen Weltmeister im Händeschütteln zu sein schienen - so sehr, dass es sich für mich manchmal fast wie ein Nationalsport anfühlte. Ich bin Amerikanerin und lebe schon viele Jahrzehnte in Deutschland - doch das Ritual des Händeschüttelns ist für mich immer eine eher förmliche Geste geblieben.

Und die Deutschen schüttelten unentwegt Hände: nicht nur bei förmlichen Anlässen wie Geschäftsbesprechungen oder wenn man jemandem vorgestellt wurde - nein, selbst wenn man jemandem zum Geburtstag gratulierte. Sogar die Kinder machten mit: Meine damals dreijährige deutsche Nichte und meine zehnjährigen Zwillinge gaben sich artig die Hand!

Ist "nach" der Pandemie "vor" der Pandemie?

In den drei harten Corona-Jahren haben die Menschen in Deutschland ihr Verhalten im Umgang miteinander geändert: 1,5 Meter Abstand halten, außerdem "Fußgruß" oder "Elbow Bump" statt Händeschütteln.

Was soll man also jetzt - im Jahr 2023 - tun, wenn einem ein Arzt in Deutschland die Hand reicht? Ich habe Linda Kaiser um Rat gefragt, die stellvertretende Vorstandsvorsitzende des Deutsche-Knigge-Gesellschaft e.V. in Essen. Adolph Freiherr Knigge (1752-1796) gab in seinem Buch "Über den Umgang mit Menschen" bereits 1788 Empfehlungen für Benimmregeln und ein wertschätzendes Miteinander der Menschen. Die Deutsche-Knigge-Gesellschaft möchte diese "in Aufklärung und Humanismus verwurzelten Ideen pflegen und verbreiten" heißt es auf der Website des Vereins.

Linda Kaiser | Benimm-Regel-Verein in Essen
Linda Kaiser, Deutsche-Knigge-Gesellschaft e.V.Bild: Giulio Coscia

"In Arztpraxen fand ich das Händeschütteln schon immer ungewöhnlich", sagt Linda Kaiser. "Denn ich weiß nicht, ob ich da unbedingt diesen Körperkontakt haben muss zu jemandem, der vielleicht gerade noch irgendwelche anderen Krankheiten an der Hand gehabt hat. Inzwischen [also nach der Pandemie, Anm. d. Red.] darf man den Handschlag zurückweisen, ohne dass das als unhöflich wahrgenommen wird", so die Expertin. Was für eine Erleichterung!

Etikette neu lernen

Man könne heute aber auch andere Formen der Begrüßung ablehnen, ohne unhöflich zu wirken, betont Linda Kaiser. Neulich war ich zum Beispiel mit Bekannten verabredet. Alle waren wir geimpft und genesen, daher fanden wir es in Ordnung, uns zur Begrüßung zu umarmen. Eine der Frauen wich allerdings einen Schritt zurück und sagte "nein, lieber nicht", als ich sie umarmen wollte. Ich war etwas erschrocken, aber dann erklärte sie mir, dass sie in der folgenden Woche operiert werden solle und deshalb das Risiko nicht eingehen wolle.

Unterm Strich, so Kaiser, lernen wir alle wieder neu, wie man sich benehme, was als höflich gelte und wie man jemandem Respekt erweise: "Es werden Fragen gestellt wie 'Wie darf ich dich begrüßen?' oder 'Darf ich dich umarmen?' Die Leute bereiten sich jetzt manchmal ein bisschen mehr vor."

Umgangsformen online oder persönlich vermitteln

Während der Lockdowns bot Kaiser Online-Kurse über deutsche Umgangsformen an, also zum Beispiel, "wie man einen Tisch deckt, wie man sein Weinglas hält, wie man jemanden anspricht". Das sei allerdings online doch durchaus etwas anderes, als jemandem live zu zeigen, wie man Spaghetti richtig mit der Gabel isst: "Interaktion untereinander sollte am besten vor Ort und in Präsenz stattfinden", meint die Knigge-Expertin. Schließlich seien viele junge Menschen erst während der Pandemie ins Berufsleben gestartet und wüssten gar nicht mehr, was es bedeutet, live zu interagieren.

Homeoffice: Jogginghose statt Anzug

"Viele sind jetzt zwar Videocall-Experten, aber wenn sie dann persönlich irgendwo aufschlagen, sind sie vielleicht schüchtern und zurückhaltend", so Kaiser. Nach vielen Monaten und gar Jahren voller Videokonferenzen in Jogginghosen wüssten viele auch nicht mehr, wie man sich entsprechend kleide, fügt sie hinzu.

Den Dresscode für beruflichen Erfolg kann man übernehmen - für korrekte Umgangsformen dagegen braucht es mehr Zeit und Feingefühl, insbesondere bei Menschen, die in den vergangenen drei Jahren überwiegend im Homeoffice gearbeitet haben. In Videokonferenzen war man immer durch den Computermonitor getrennt, sagt Kaiser. "Er suggeriert eine Distanz: Ich sitze in meinem Zuhause und bin geschützt, alles ist gut. Dann sage ich vielleicht auch Dinge, die ich sonst nicht sagen würde. In einem Raum voller Menschen im realen Leben ist das wieder etwas ganz anderes, da fällt mir das dann nicht mehr so leicht."

Die Nuancen der zwischenmenschlichen Kommunikation werden vor Ort und in Präsenz umso deutlicher. Ob ich einem Arzt in der Arztpraxis noch einmal die Hand gebe? Ich denke, ich werde darauf verzichten - da wird das Lächeln (vorerst noch unter der Gesichtsmaske) wohl als Geste genügen müssen.

Für mehr deutsche Eigenarten besuche die Seite unserer Serie "Meet the Germans". Alle Videos von "Meet the Germans" gibt es auch bei YouTube.