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Politik

Der Tod eines Mädchens wird zum Politikum

Daniel Derya Bellut | Tunca Öğreten
21. November 2019

War der Tod von Rabia Naz wirklich ein Selbstmord? Der Vater bezweifelt das, forscht nach den wahren Todesursachen und erhebt heftige Vorwürfe. Viele Türken sehen den Fall als ein weiteres Symbol für Justizwillkür.

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Türkei, Rabia Naz Vatan
Bild: privat

Seit dem Tod seiner Tochter Rabia Naz vor über einen Jahr ist Saban Vatan auf der Suche. Er will, dass endlich die Wahrheit ans Licht kommt darüber, was seiner Tochter zugestoßen ist am 12. April 2018 in Eynesil, einer Kleinstadt an der türkischen Schwarzmeerküste. An dem Tag, den er niemals vergessen wird, lag das elf Jahre alte Mädchen schwerverletzt vor der Haustür seines Wohnhauses. Im Krankenhaus erlag Rabia Naz kurz darauf ihren Verletzungen.

Familienangehörige und zunächst auch die Staatsanwaltschaft gingen von einem Autounfall als Todesursache aus. Die Polizei aber hält Rabia Naz' Tod für einen "Selbstmord durch einen Sprung aus dem fünften Stockwerk". Der Vater behauptet dagegen: Die örtliche Staatsanwaltschaft und Polizei vertuschen die wahre Todesursache seiner Tochter. Auschlaggebend für seine Zweifel war, dass die erste Autopsie einen Zusammenprall mit einem Auto als Todesursache genannt hatte. Das Untersuchungsergebnis wurde jedoch bald von der Staatsanwaltschaft revidiert.  

Ein Vater ermittelt selbst

Daher unternahm Vatan eigene Nachforschungen: Er recherchierte beharrlich, befragte Zeugen und Experten, um Widersprüche aufzudecken. Im März berichtete er der Deutschen Welle von seinen Recherchen. Sie hätten ergeben, dass der Neffe des ehemaligen AKP-Bürgermeisters Coşkun Somuncuoğlu seine Tochter überfahren habe. Anschließen hätten einflussreiche AKP-Politiker, darunter der ehemalige Verteidigungsminister Nurettin Canikli, dazu beigetragen, den Tod seiner Tochter wie Selbstmord aussehen zu lassen. Der Ex-Minister hat Verbindungen zu der Kleinstadt; er kommt aus der gleichen Schwarzmeerprovinz.

Türkei, Rabia Naz Vatan
Saban Vatan sucht seit Monaten nach der Wahrheit - er glaubt nicht an den Freitod seiner TochterBild: privat

Vatan verweist darauf, dass seine Tochter nicht geblutet habe, als er sie fand, trotz der schweren Verletzungen. Dafür hätten an der Kleidung seiner Tochter Sägespäne, Stroh und Staub gehaftet; diese Rückstände führten ihn zu einer Scheune in der Nähe. Möglicherweise sei dies der Ort gewesen, wo man nach dem Unfall Rabia Naz' Blut abwusch, bevor man sie vor Vatans Haus ablegte. Nach dem Vorfall wurde die Scheune abgerissen - möglicherweise, um Beweise zu vernichten, vermutet Vatan.

Hinzu komme, meint der Vater, dass rein physikalisch ein Selbstmord unmöglich gewesen sei. An dem Haus befände sich ein viereinhalb Meter breites Vordach. Seine Tochter habe nicht die körperlichen Voraussetzungen gehabt, um ein solches Hindernis zu überspringen. Auch der Staatsanwalt, der sich mit dem Fall befasste, bestätigte, dass es unmöglich gewesen sei, dass das Mädchen sich von dem Dach gestürzt hat. Der Staatsanwalt wurde kurz darauf entlassen.

Zeugen hätten schließlich berichtet, dass zu dem Zeitpunkt des Unfalls ein schwarzer Fiat Doblò durch die Straße gerast sei. In einer örtlichen Waschanlage sei schließlich am Tag der Tragödie genauso ein Fahrzeug gereinigt worden - womöglich, um Blutspuren zu entfernen.

Einsatz für die sozialen Medien

Diese Widersprüche und noch viele weitere Beweise legte er der örtlichen Polizei vor - ohne eine Reaktion zu erhalten. Vatan gab nicht auf. In den sozialen Medien verbreitet er täglich seine Sicht auf den Vorfall: Mächtige Politiker würden die wahre Todesursache seiner Tochter Rabia Naz verschleiern. Die Geschichte verbreitete sich rasant und traf einen Nerv: Für viele ist es ein weiteres Symbol für das Misstrauen gegenüber einer willkürlichen Justiz, das Gefühl der Ohnmacht gegenüber einem mächtigen Staat, der von einer einzigen Partei dominiert wird.

Türkei Ermittlungen über den Tod von Rabia Naz Vatan
Früher engagierten sich die Eltern von Rabia Naz für die Regierungspartei AKP - heute sind sie Gegner der ParteiBild: DHA

Die öffentliche Aufmerksamkeit hatte Folgen: Im März wurde Saban Vatan wegen "Beleidigung" und "Bedrohung" festgenommen und sollte wegen einer "psychischen und neurologischen Erkrankung" in eine Nervenheilanstalt eingeliefert werden. Die Empörung in der Bevölkerung führte dazu, dass das Urteil nicht vollstreckt wurde.

Die Politik schaltet sich ein

Inzwischen nehmen Politiker aus Ankara sich des Falles an: Das Parlament in Ankara setzte einen Untersuchungsausschuss ein, um den Tod von Rabia Naz zu untersuchen. Als die Kommission aus 12 Politikern aus verschiedenen Parteien letzte Woche an den Ort der Tragödie kam, musste Vatan jedoch einen Dämpfer hinnehmen. Während des Besuches wurde der Vater zusammen mit drei Journalisten, die über den Besuch berichten wollten, erneut festgenommen. Nach Angaben des Provinz-Gouverneurs wurde gegen die vier Festgenommen wegen "Erpressung, Drohung, Beleidigung, Verletzung und dem Versuch der Verfahrensbeeinflussung" ermittelt. Einen Tag später wurde Vatan wieder freigelassen.

Süleyman Soylu
AKP-Innenminister Soylu: "Es gibt keine Beweise für die Behauptungen"Bild: picture-alliance/AP Photo/B. Ozbilici

Die lokale Polizei hält unterdessen an ihrer ursprünglichen Darstellung fest, dass es sich bei dem Tod von Rabia Naz um einen Selbstmord handele. Wie die türkische Zeitung Milliyet berichtet, sei ein Untersuchungsteam der Polizei nach der Befragung von 150 Zeugen sowie Gerichtsmedizinern zu dem Schluss gekommen, dass Rabia Naz sich selbst das Leben genommen habe. Und am Donnerstag äußerte sich der türkische Innenminister Süleyman Soylu zu dem Fall: Man werde die Akte bald schließen, es gebe keine Beweise für die Behauptungen des Vaters, so der AKP-Politiker.

Schon am Dienstag kündigte die größte Rechtsanwaltskammer der Türkei in Istanbul bei einer Pressekonferenz an, dass sie Vatan jetzt rechtlich unterstützen werde. Aus der Kammer werden sich zehn Anwälte in einer Kommission zusammenschließen und sich mit dem Fall Rabia Naz befassen, heißt es. Das Ziel sei es, mehr rechtliche Unterstützung bereitzustellen und dafür zu sorgen, dass der nebulöse Todesfall des Mädchens zukünftig auch in den Mainstream-Medien wahrgenommen wird.