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Der Kampf der Working Poor

Antje Passenheim, Washington29. Januar 2014

Lyndon B. Johnson sagte der Armut in den USA den Kampf an. 50 Jahre später schreibt sich Präsident Obama Gerechtigkeit auf die Fahne. Doch die Schüler einer Erwachsenenakademie in Washington spüren davon nichts.

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Armut und Analphabetismus in den USA (Foto: DW)
Bild: DW/A.Passenheim

Draußen weht ein scharfer Wind. Die, die durch den Schnee zur Schreibstunde stapfen, wissen, dass er nicht nur im Winter weht. Sie kennen das Alphabet der Armut. Lesen und Schreiben üben sie gerade in einer Gruppenarbeit. Gesucht wird ein Angehöriger mit B. "B wie Boyfriend", weiß eine Schülerin. Etwa 40 Jahre ist die Frau in der Uniform einer Sicherheitsfirma. Eine Arbeitskluft tragen viele Schüler der "Academy of Hope" im eher hoffnungsloseren Teil von Washington. Küchenhilfen, Kassierer, Tagelöhner. Viele müssen gleich nach der Stunde zu ihrer Schicht. 18 ist der Jüngste - 81 die Älteste unter den Menschen, die in den freundlichen Räumen der auf Spenden basierenden Erwachsenenakademie über ihren Arbeitsblättern brüten. "Baby, geht auch, Jesus Christ, girl!" macht sich eine Mitschülerin über den Boyfriend-Vorschlag lustig. Der Tisch prustet. Zu lachen haben sie nicht immer so viel.

"Die meisten Erwachsenen, die an unseren Programmen teilnehmen, sind entweder arbeitslos oder haben wirklich schlecht bezahlte Teilzeitjobs", erklärt Direktorin Lecester Johnson. "Wir haben Schüler, die drei oder vier Stellen haben, um über die Runden zu kommen."

Lecester Johnson, Leiterin der 'Academy of Hope' (Foto: DW)
Ein Viertel der US-Amerikaner "tendiert zum Analphabetismus", schätzt Lecester Johnson, Leiterin der "Academy of Hope"Bild: DW/A.Passenheim

Einen Katzensprung vom Kapitol entfernt leben diese Erwachsenen auf der Schattenseite der US-amerikanischen Hauptstadt. Erst spät lernen sie richtig zu lesen und zu schreiben. "Rund 25 Prozent der Menschen in diesem Land tendieren zum Analphabetismus. In der Hauptstadt können nach Schätzungen etwa 85.000 Menschen nicht richtig lesen", erklärt Direktorin Johnson. In der Akademie der Hoffnung wollen sie nicht nur das lernen. Sie träumen von einem Schulabschluss. Von einem besser bezahlten Job. Und davon, dem Armutskreislauf zu entkommen.

Arbeiten, aber nicht davon leben können

Working Poor - Erwerbsarme heißt die Gruppe, zu der sie zählen. Eine Gruppe, die in den USA explodiert, während die Zahl der Arbeitslosen laut Statistik stetig schrumpft. Es ist tatsächlich oft nicht so schwer, einen Job zu finden. Doch damit zu überleben schon. Rund ein Viertel aller Amerikaner arbeitet für weniger als zehn Dollar Stundenlohn. Der bundesweite Mindestlohn liegt derzeit noch bei 7,25 Dollar. Unmöglich, damit eine Familie zu ernähren, weiß Schülerin Carlita Johnson. "Ich verbrauche 350 bis 400 Dollar für Lebensmittel - denn meine Kinder und Enkel kommen oft zum Essen. Das ist die Hälfte meines Gehalts."

Carlita Johnson, Schülerin der 'Academy of Hope' (Foto: DW)
Die Armen werden ärmer, die Reichen werden reicher, sagt Carlita JohnsonBild: DW/A.Passenheim

Zwei Töchter und zehn Enkel sitzen oft bei Carlita am Tisch. Die Frau, die jahrelang kokainabhängig und obdachlos war, ist stolz auf ihre Familie. Sie arbeitet als Kassiererin in einem Lebensmittelladen. Ihren zweiten Job hat die 51-Jährige aufgegeben, um Zeit für ihren Highschool-Abschluss zu haben. Ihr Mann schuftet für Miete und Strom. Mehr Ausgaben sind kaum drin. "Manchmal ist es frustrierend", gibt sie zu. "Du arbeitest von Gehalt zu Gehalt, nur um Rechnungen zu bezahlen." Ein Auto können sie sich nicht leisten. Für Sozialhilfe verdienen sie zuviel. 16 Dollar Lebensmittelhilfe standen den Johnsons mal zu. "Was kannst du mit 16 Dollar machen? Das ergab zwölf Eier, einen Laib Brot, etwas Milch - mehr nicht."

Die meisten ihrer Freunde beißen sich aus eigener Kraft mit mehreren Jobs durch. In den USA ist es teuer, arm zu sein. Alles geht ins Geld: Fahrten zur Arbeit, Krankenversicherung, Lebensmittelpreise, die seit Jahren steigen, während der Mindestlohn stagniert. Das macht sie wütend. "Die Armen werden ärmer. Die Reichen werden reicher", schimpft Carlita. Und in der Mitte gibt es nicht mehr viel.

Chancen und Wohlstand sind ungleich verteilt

Die wachsende Armut trifft besonders die ungebildeten Amerikaner, bestätigt Armutsforscher Timothy Smeeding von der Universität Madison in Wisconsin. "Wenn du ein Kind bekommst, bevor du 30 bist. Und wenn du dazu keine Bildung und keine stabile Familie hast, dann hast du eine harte Zeit“, erklärt er. "70 Prozent aller amerikanischen Männer sind schon mit 30 Vater. Aber nur die Hälfte von ihnen lebt auch mit ihren Kindern zusammen." Knapp die Hälfte der Kinder wachsen im reichsten Land der Welt in Armut auf. Ohne Schulspeisungen oder Lebensmittelmarken würden sie nicht satt.

Bislang waren die USA ein Staat, in dem es von Generation zu Generation besser ging. Doch Mittelstandsfamilien geht es heute schlechter als Ende der 1990er Jahre. Der Wohlstand spaltet, weiß Smeeding. "Es gibt so etwas wie den Geburtenteiler. In jeder weiteren Generation herrscht mehr Ungleichheit bei Chancen, Fähigkeiten und Wohlstand."

Während die Gehälter des Mittelstands seit über 30 Jahren stagnieren, explodieren die Spitzengehälter. 1950 hat ein Vorstandsvorsitzender in den USA 30 Mal soviel verdient wie einer seiner Angestellten, heute bekommt er 300 Mal soviel. 50 Jahre, nachdem Präsident Lyndon B. Johnson der Armut den Kampf angesagt hat. Doch dieser Kampf ist noch lange nicht gewonnen, meint Akademieleiterin Johnson. Vieles habe mit verpassten Investitionen in die Erwachsenenbildung zu tun.

Mehr Aus- und Weiterbildung notwendig

Von einer Ausbildungslücke spricht auch Judy Berman. Ihre Organisation "DCAppleseed" hat sich den Interessen der Working Poor in Washington verschrieben. Sie forscht, unterstützt und kämpft für Gesetze. Etwa für die Erhöhung des Mindestlohns, wie sie Präsident Obama bundesweit fordert. In Washington selbst hat der Stadtrat bereits einer Erhöhung auf 11,50 Dollar zugestimmt. Doch das Leben in der Hauptstadt sei so teuer, dass auch das bei einer 40-Stunden-Woche nicht reiche, um mit einer Familie über die Runden zu kommen. Das Problem sei, dass es für die meisten zu wenig Aufstiegsmöglichkeiten in lukrative Jobs gebe. "Wir haben Jobs und wir haben Menschen. Aber die Ausbildung, die die Menschen haben, passt nicht zu den freien Jobs", meint die stellvertretende DCAppleseed-Direktorin.

Diese Lücke zu schließen, meint Berman, gehört noch nicht zu den besonderen Fähigkeiten ihres Landes. "Ich denke, eine der großen Schwachstellen des Kampfs gegen die Armut in der Johnson-Regierung der 1960er Jahre war, dass zu wenig auf Beschäftigung geachtet wurde", meint sie. "Und jetzt sind wir in einer Situation, in der der Arbeitsmarkt nicht nur auf gut ausgebildete Jugendliche angewiesen ist, sondern es ist nötig, die bestehenden Arbeitskräfte ausreichend gut weiterzubilden."

Judy Berman von der Organisation 'DCAppleseed' (Foto: DW)
Judy Berman von der Organisation "DCAppleseed" macht sich für einen höheren Mindestlohn starkBild: DW/A.Passenheim

"Es muss sich etwas ändern"

Es sei sicher schwer begreifbar für Menschen in anderen Industrieländern, dass Menschen Vollzeit arbeiten und ihre Familie trotzdem nicht damit durchbringen können. "Aber genau das geschieht hier in den USA. Und deshalb ist der Mindestlohn so wichtig." Carlita Johnson hat dafür schon mit ihren Mitschülern vor dem Kapitol demonstriert. Sie weiß, im Kampf für mehr soziale Gerechtigkeit steht sie nicht allein da. "Ich spreche für Millionen", sagt sie. "Für Millionen wie mich."

Im Herbst wird Carlita an der "Academy of Hope" ihren Highschool-Abschluss machen - und wenn alles gut geht, ist sie dann bald Therapeutin. Und nicht mehr Working Poor. Eine von wenigen, die es schaffen. Welcher Weg auch die andern aus der Armut führt - Carlita zuckt mit den Schultern. "Ich weiß es nicht", wiederholt sie dreimal leise. Nur soviel weiß die Frau, die sich in ihrem Leben mehrfach an den eigenen Haaren aus dem Sumpf gezogen hat: "Etwas muss sich ändern."