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Transkript: 49. Depressionen: Eine ernsthafte Krankheit

7. Juli 2022

Für Menschen, die unseren Podcast nicht hören können, stellen wir hier ein Transkript zur Verfügung: Immer mehr Menschen leiden unter Depressionen. Nur wenige reden darüber, denn noch immer ist die Erkrankung ein Tabu.

https://p.dw.com/p/4DjcP

Zum Podcast geht es hier.

Jingle: DW. "Echt behindert!"

Moderator, Matthias Klaus: Herzlich willkommen zu "Echt behindert!" Mein Name ist Matthias Klaus.

Es wird geschätzt, dass 16 bis 20 Prozent aller Menschen in Deutschland irgendwann Bekanntschaft mit einer Depression machen. Das nennt man wohl "Volkskrankheit". Doch ist das eigentlich eine Behinderung? Kommt drauf an, so viel vorweg. Doch sehr oft: Ja! Und Depression ist unsichtbar und sehr oft Privatsache, da sich niemand gerne stigmatisieren lässt.

Heute in "Echt behindert!" zu Gast ist eine Künstlerin, die sich mit ihrer Depression nicht versteckt und offen damit umgeht. Sie spielt Theater und sie macht Musik. Und sie hat ein ganzes Album zum Thema Depression veröffentlicht. Herzlich willkommen Marie-Luise Gunst.

Marie-Luise Gunst: Hallo, ich freue mich, dass ich dabei sein darf.

Matthias Klaus: "Wie geht eigentlich Depression?" nenne ich diese Folge hier und ich würde das jetzt gerne von Ihnen wissen. Wie geht eigentlich Depression? Mit dem Wort ist man ja schnell unterwegs, wenn jemand schlechte Laune hat. Aber darum geht es ja wahrscheinlich nicht.

Marie-Luise Gunst: Das ist eine tolle Frage, weil Depressionen zum ersten, glaube ich, auch sehr, sehr individuell sind. Also, es ist gar nicht so einfach wie bei anderen Erkrankungen so bestimmte Ausprägungen zu sagen. Ich kann dann immer am besten von mir sprechen, wie es bei mir ist. Und ja, wenn ich in einer Depression bin, dann ist mein ganzes Leben auf eine bestimmte Art und Weise lahmgelegt. Ich bin eigentlich nicht mehr existent, ich habe keine Freude mehr an den Dingen. Ich kann mich selber auch kaum noch spüren. Später kommt dann auch oft dazu, dass ich nachts sehr, sehr dunkle, sehr, sehr schlimme Gedanken habe, also durchaus auch darüber nachdenke oder nachgedacht habe, mein Leben zu beenden. Und ja, wenn man das vielleicht mal sieht, kann man sich vorstellen, wie belastend das ist, obwohl es eben an sich eine nicht sichtbare Erkrankung ist. Und auch mir wird immer wieder unterstellt oder gesagt, dass ich ja im Alltag und im Leben so produktiv bin und so viel schaffe und so viel erreiche. Das kann aber durchaus nebeneinander existieren und das macht es vielleicht auch manchmal so schwer zu erkennen, warum es Menschen mit Depressionen so schlecht geht. Weil es nach außen so wenig sichtbar ist.

Matthias Klaus: Wie kann so was nebeneinanderstehen? Zieht einen das nicht runter in der Kreativität?

Marie-Luise Gunst: Bei mir ist es so, dass die Kreativität manchmal so ein Safe Space ist, so ein geschützter Raum, in dem ich dann trotzdem meine Emotionen ausagieren kann, ohne dass sie eine gesellschaftliche Konsequenz haben. Das heißt, da darf ja auch Weinen, da darf Schreien, all das, was man sich manchmal im Alltag eben nicht traut, dann auch da sein. Und deshalb funktioniert es für mich sehr gut. Ich weiß aber auch von vielen anderen Betroffenen, dass es durchaus auch immer irgendetwas gibt, was hilft. Für die einen oder anderen ist es Sport, für den anderen ist es irgendein spezielles Hobby. Viele Betroffene stricken zum Beispiel. Also da gibt es ganz, ganz unterschiedliche Methoden, trotzdem auch in Aktion zu bleiben und sich dadurch auch zu helfen.

Matthias Klaus: Aber machen wir es mal von vorne. Also können Sie sich daran erinnern, wann das bei Ihnen losging?

Marie-Luise Gunst: Ich gucke da ja jetzt als Erwachsener ganz anders drauf. Und heute würde ich sagen, mit meinem Wissen über die Erkrankung gab es durchaus schon in meiner Kindheit depressive Phasen, also Phasen einer großen Zurückgezogenheit, einer Nicht-Zugehörigkeit zu anderen Menschen, wo ich mich immer sehr allein gefühlt habe, sehr, sehr traurig war und mit meinen Emotionen nicht gut umgehen konnte.

Die erste richtige Ausprägung hat sich dann in meiner Pubertät gezeigt. Da war es eine Essstörung, die sozusagen dieses Problem, gezeigt hat und irgendwie mir zum ersten Mal klar gemacht hat, da stimmt irgendwas nicht mit mir und das will ausgedrückt werden. Und da war so eine Essstörung natürlich ein bisschen progressiver und auch lauter als die Depression. Und später im jungen Erwachsenenleben, im Studium kam dann zum ersten Mal auch so eine richtig schlimme depressive Phase und die begleitet mich seitdem auch immer wieder. Und eine Therapeutin hat mal ganz treffend gesagt: "Die Depression ist wahrscheinlich die erwachsene Ausdrucksform meiner Grundproblematik."

Matthias Klaus: Lässt sich denn fassen, was die Grundproblematik ist?

Marie-Luise Gunst: Die Grundproblematik ist bei mir auf jeden Fall eine große genetische Disposition. Das heißt, ich bin im familiären Kontext mit vielen Menschen groß geworden, die auch mit psychischen Erkrankungen zu tun haben. Und das bedeutet da immer schon eine gewisse Vulnerabilität. Und dann sind andere Faktoren dazugekommen, die das eben verstärkt haben in meinem Leben, dass ich mich ausgeschlossen gefühlt habe, dass ich unzufrieden war mit meinem Körper, dass gewisse Traumata passiert sind, die das verstärkt haben. Und so hat sich diese Belastbarkeit und diese Dünnhäutigkeit in Bezug auf dieses Thema einfach immer stärker ausgeprägt.

Matthias Klaus: Wenn man jetzt mal schaut, Sie sagten gerade "Phasen". Behinderung würde man zum Beispiel denken, das ist ja immer, aber Depression ist mal und mal nicht. Wie lange dauert denn so eine Phase und wie kommt man da wieder raus?

Marie-Luise Gunst: Das ist ganz, ganz unterschiedlich bei mir. Also mittlerweile gibt es durchaus so kurze Phasen, die dann mal nur über einige Wochen gehen. Aber es gibt auch Phasen, die über mehrere Jahre gehen. Ich glaube, klinisch spricht man auch erst bei einer bestimmten Zeitdauer davon. Bei mir ist es aber so, dadurch, dass ich so wenige Phasen in meinem Leben gesund war, haben sich bestimmte Verhaltensmuster der Depression auch in diesen gesunden Phasen eingeprägt. Also latent ist da immer auch so ein bisschen grunddepressives Verhalten da.

Wie kommt man da wieder raus? Das ist auch, glaube ich, sehr, sehr individuell und unterschiedlich. Ich muss mich da immer noch disziplinieren, weil ich immer viel zu lange warte. Ich habe so bestimmte Trigger und auch andere Dinge, wo ich dann auch schnell wieder merke, es geht mir nicht so gut und ich muss eigentlich was tun. Ich müsste jetzt zum Arzt gehen, mir Medikamente holen, mich auch wieder um Therapie bemühen und andere Dinge, die mir helfen. Und oft warte ich dann aber viel zu lange und bin dann schon wieder ein ganzes Stück tiefer drin, als das eigentlich sein müsste.

Ja, das hat glaube ich auch mit Schamgefühl zu tun und aber letztlich ist es eigentlich das, was mir am besten hilft, zu einem Arzt zu gehen und dann zum Teil eben auch Medikamente zu nehmen, in Therapie zu sein, dann eben auch mich zu bewegen, Dinge zu tun, die mir gut tun, mich mit Menschen zu umgeben, die mir gut tun. Und das kann zumindest die Symptome lindern. Es macht sie nicht weg, aber es lindert sie ein Stück weit.

Matthias Klaus: Sie haben sich ja viel mit dem Thema beschäftigt. Jetzt mal vielleicht nicht nur bei Ihnen. Was sind denn die Ursachen? Kann man so etwas sagen wie "Ursachen von Depression sind" … , so wie man sagt "Ursache von Rheuma" ist zu viel Säure im Schweinefleisch. Gibt es Ursachen, wo man sagen kann: "Das ist so!" Also ist es angeboren oder muss man eine schwere Kindheit gehabt haben oder gibt es so etwas?

Marie-Luise Gunst: Also man sagt generell immer, dass die psychischen Erkrankungen multifaktorielle Erkrankungen sind. Das heißt, es gibt nicht die eine Ursache. Das wäre schön und einfach, wenn man das vorher wüsste und sozusagen dann ja auch Menschen präventiv behandeln könnte. Aber es ist nicht so, es ist durchaus sehr unterschiedlich. Ich habe vorhin ja schon kurz angesprochen, dass die genetische Disposition zum Beispiel eine Rolle spielt. Dann spielen aber eben auch andere Lebensereignisse zum Beispiel eine Rolle. Und so richtig genau festmachen, warum nun gerade in dem Moment bei einem Menschen eine Depression entsteht, kann man eigentlich gar nicht. Also es gibt eine Belastung, es gibt eine Vulnerabilität, aber woher die jetzt ganz genau kommt in diesem Moment, ist ganz, ganz schwer festzumachen.

Matthias Klaus: Also man kann auch gar nicht sagen: "Prävention! Sie müssen das und das machen, dann wird es Sie nicht erwischen" oder so!

Marie-Luise Gunst: Prävention kann man insofern schon betreiben, denke ich, dass man Menschen gut auf diese Momente der erhöhten Verletzlichkeit vorbereiten kann. Also dass man zum Beispiel all diese Dinge, die dazu führen können, nämlich Mobbing oder auch andere Dinge, die eine Verletzlichkeit verstärken und dann vielleicht in eine Erkrankung führen, dass man darüber redet, dass man eben auch Gefühle zum Ausdruck bringt, dass man nicht zu lange wartet. Und da kann Prävention natürlich schon viel bewirken, weil es die Risikofaktoren minimiert und weil es vielleicht auch dabei hilft, dass sich Menschen eher trauen, über ihre seelischen Probleme zu reden und sich auch Hilfe zu holen, dass es eben einfach nicht mehr so stigmatisiert ist zu sagen: "Es geht mir seelisch nicht gut und ich brauche Hilfe, ich schaffe das nicht alleine."

Matthias Klaus: Also weg von dieser Idee: "Therapie ist was für Schwache, da gehen wir mal besser gar nicht hin."

Marie-Luise Gunst: Genau da müssen wir dringend von weg, von dieser Einstellung und Vorstellung, denn letztlich belegt es das, was mit am meisten hilft, dass wir Therapie bekommen als Betroffene. Was natürlich auch nicht leicht ist, weil man momentan im Schnitt ja 22 Wochen auf einen Therapieplatz wartet. Da haben wir auch ein großes Problem gerade.

Matthias Klaus: Was macht man dann? Man kann ja vielleicht manchmal nicht so lange warten. Sie haben selbst gesagt, dass es Momente gäbe, wo man auch Selbstmordgedanken hätte. Wenn man jetzt so tief drinsteckt und ist so in der tiefen Dunkelheit, sage ich mal, kann man nicht sagen: "Okay, fünf Monate, das steck ich weg, ich schlaf jetzt mal ein und wache in fünf Monaten wieder auf. Und dann habe ich einen Therapieplatz." Da muss man ja irgendwas tun. Was kann man dann ganz praktisch machen?

Marie-Luise Gunst: Was ich immer empfehle ist: Es gibt mittlerweile ganz, ganz viele kompetente, tolle Beratungsstellen vor Ort, die oft auch so ein bisschen so eine Übergangszeit überbrücken können. Es gibt auch Online-Programme, es gibt Apps, die einen durch so eine Zeit begleiten können. Man muss natürlich immer auf den Schweregrad gucken. Wenn jemand jetzt wirklich sehr suizidal ist und es geht ihm sehr schlecht, dann kommt man manchmal auch um eine Noteinweisung nicht drumherum. Dann muss man wirklich in einer akuten Krise auch in eine Klinik gehen und sich dort helfen lassen. Es gibt aber durchaus auch viel, was man machen kann. Also Selbsthilfegruppen leisten zum Beispiel auch eine ganz, ganz großartige Arbeit, helfen Menschen vor Ort und da kann man oft auch hingehen, wenn man noch nicht in Therapie ist und kann einfach mit Menschen in Kontakt kommen, baut da vielleicht auch wieder Beziehungen auf, die dann vielleicht auch helfen in Therapie zu kommen. So etwas kann ich sehr, sehr empfehlen, denn es ist ganz, ganz wichtig, dass man Unterstützung hat, gerade in so einer langen Wartezeit. Die kann sehr, sehr zehrend sein. Und auch Medikamente wirken in der Regel ja nicht gleich, sondern erst auch so nach 5 bis 6 Wochen. Das heißt, auch da muss man eine ganz schöne Zeit überbrücken, bis es einem vielleicht ein Stück weit besser geht.

Matthias Klaus: Ich würde gerne noch mal ein bisschen ins Detail gehen, wenn das für Sie okay ist.  Also, die Frage, wenn es richtig schlimm ist, wenn Sie so unten im tiefen Tal angekommen sind, was passiert dann mit Ihnen außer, dass Sie nachts grübeln? Können Sie dann noch arbeiten?

Marie-Luise Gunst: Das gab es natürlich auch. Es gab schon Dinge, die ich absagen musste, weil ich einfach gemerkt habe: "Ich schaff das nicht, ich kriege das heute nicht hin." Oft habe ich mich dann zumindest in der Vergangenheit auch nicht getraut, da immer die Wahrheit zu sagen. Und es ist auch so, dass mich das dann manchmal auch körperlich aushebelt. Das heißt, der Körper zieht dann nach, es geht der Seele schlecht. Aber es ist auch wirklich so, dass ich es körperlich nicht schaffe aufzustehen, dass ich einfach auch Schmerzen habe am ganzen Körper, dass es eigentlich, ja, sich anfühlt wie eine ganz, ganz schwere Erkrankung, mit der man gar nichts mehr leisten kann. Ich weiß aber mittlerweile eben auch, dass es mir hilft... Es gibt die sogenannte "Abwärtsspirale", das heißt, dass man immer weiter in dieses depressive Loch reinrutscht. Und ich habe in den letzten Episoden auch verinnerlichen können, dass es mir durchaus auch hilft, da dagegen zu gehen und mich zu bemühen, trotzdem dann meine Aufgaben zu schaffen, weil mir das dann wiederum Kraft zurückgibt und ich nicht noch zusätzlich das Gefühl habe: "Ich leiste nichts, ich bin nichts wert", weil das ist ja das, was dann passiert und was so ein ganz schrecklicher Teufelskreis ist. Wenn ich liegen bleibe, weil es mir schlecht geht, denkt die Depression … Dann hat sie noch mehr Angriffsfläche, weil ich eben auch nichts wert bin und nichts leiste. Und da muss man irgendwie rauskommen.

Matthias Klaus: Das heißt, diese ganzen Sachen, die Sie ja eigentlich von sich wissen, dass Sie ein kreativer Mensch sind, dass Sie ganz gut Theater spielen, dass es über Sie Zeitungsartikel gibt, all das sehen Sie dann auch nicht mehr, wenn es richtig schlimm ist?

Marie-Luise Gunst: Also bei mir wird dann vor allem immer der Selbstwert total ausgehebelt. Das heißt, ich kann nichts mehr an mir gut oder schön oder irgendwie positiv finden. Das ist ganz gemein und ich versuche dann trotzdem meinen Alltag zu schaffen. Aber im Grunde halte ich mich dann für komplett wertlos und das hilft mir dann auch nichts, also manchmal schon. Aber mir diese Sachen - ich habe die auch zu Hause – die mir dann anzugucken oder wenn mir andere das sagen. Da ist tatsächlich dieser kaputte Selbstwert in der Depression so groß, dass ich mir das dann nicht klar machen kann, dass ich eigentlich für andere oder von außen oder auch objektiv betrachtet ein Mensch bin, der auch viel tut und viel leistet. Ich kann das dann in dem Moment überhaupt nicht sehen und auch vor allem nicht fühlen. Das ist das Wichtige. Ich kann es einfach nicht greifen.

Matthias Klaus: Was geschieht dann in einer Therapie? Wenn Sie zu Ihrer Therapeutin, zu Ihrem Therapeuten gehen? Die reden ja auch mit Ihnen, oder was passiert da? Was sind Methoden, die einen da wieder rausholen und einem diesen Selbstwert zurückgeben können?

Marie-Luise Gunst: Die Verhaltenstherapie setzt ja sehr an Abläufen, an bestimmten Mustern an und versucht dann auch so etwas zu durchbrechen. Eben zum Beispiel dieses Bild, das ich gerade schon benutzt habe mit der Abwärtsspirale, dass man sich das wirklich auch klar macht, dass man das visualisiert. Wenn ich jetzt nichts tue, dann rutsche ich da immer weiter rein. Und dass man dann zum Beispiel mit einem Therapeuten oder einer Therapeutin erarbeitet: "Was könnten denn Dinge sein, die mich in diesem Moment da wieder rausholen? Was kann ich tun? Könnte es ein Spaziergang sein? Kann ich mich verabreden mit Freunden? Oder auch härtere Skills, die man sich erarbeitet? Muss ich unter die kalte Dusche gehen oder irgendwie gegen eine Matratze boxen oder andere Dinge machen? Was kann ich ganz konkret tun? Was kann mir in dem Moment helfen, vielleicht ja diesen freien Fall der Depression aufzuhalten und mich irgendwie oben zu halten." Und da gibt es ganz, ganz unterschiedliche Methoden. Der Selbstwert und das Thema Selbstliebe sind bei mir nach wie vor ein großes Problem. Da arbeite ich noch sehr dran. Da bin ich eine Lernende, hoffe aber, dass ich auch da in Zukunft noch einiges tut.

Matthias Klaus: Dieser Podcast hier heißt ja "Echt behindert!" Das heißt, es geht hier eigentlich wirklich immer um Behinderung. Depression: Kann man die heilen? Ist die irgendwann weg oder ist es wirklich eine Behinderung? Bleibt die ein Leben lang?

Marie-Luise Gunst: Das ist auch wieder unterschiedlich. Es gibt durchaus auch Menschen, die nur einmalig an einer Depression erkranken. Es ist aber so, dass wenn Menschen häufiger an einer Depression erkranken, so wie ich auch, also eine sogenannte rezidivierende Depression haben, dass es dann sehr wahrscheinlich ist, dass das ein lebenslanger Begleiter ist und sozusagen immer wiederkommt. Und dann kommt man schon auch in den Bereich, dass es ja eine Behinderung ist oder sein kann oder sich auf jeden Fall aber wie eine anfühlt.

Es ist ja auch durchaus möglich, eine Schwerbehinderung zu beantragen mit der Depression. Und ich kann auch aus eigener Perspektive sagen, dass ich für mich merke, auch mit dem wachsenden Alter, das ist schon auch ein ganz schöner Kraftaufwand ist. Ich kann das Gleiche leisten wie Menschen ohne diese Erkrankung, aber es kostet mich einfach unglaublich viel Energie. Und ja, da ist es natürlich manchmal auch sogar entlastend zu sagen: "Ich kann einfach nicht mehr leisten. Das hat mit dieser Erkrankung zu tun." Und da auch manchmal einfach gnädig mit sich zu sein und das wertzuschätzen, was man aber trotzdem hinbekommt.

Matthias Klaus: Im Berufsalltag hört man ja immer wieder, dass die Menschen, die eine Depression haben, die versuchen zu verstecken, weil man sie dann nicht mehr für leistungsfähig hält oder weil sie einfach nicht gerne darüber reden. Haben Sie das auch schon gemacht? Sie sind jetzt bekannt dafür, die Depression sogar zum Thema zu machen. Gab es Zeiten, wo das keiner wusste?

Marie-Luise Gunst: Ich glaube, diese ganze Zeit der Essstörung war deutlich schambehafteter. Da habe ich nicht so offen und ehrlich drüber gesprochen. Irgendwann dann auch. Aber da gab es auch eine ganz große, lange Zeit, wo ich nicht darüber gesprochen habe und ich kann das schon auch verstehen. Also es hat sich extrem viel getan, das muss ich wirklich sagen. Ich bin ungefähr seit 2007 ja jemand, der sich ganz, ganz offen damit beschäftigt und einfach auch damit rausgeht und sagt: "Ich habe eine psychische Erkrankung." Und da war das zum Teil noch ganz, ganz anders und viel, viel stärker stigmatisiert als es heute ist. Es gibt andere mittlerweile Umgehungsmöglichkeiten in Firmen, es gibt sogar auch Vertrauenspersonen. Ich habe in diesem Jahr zum Beispiel auch eine Ausbildung gemacht als Ersthelfer für seelische Gesundheit. Das wird auch in Betrieben gemacht, dass es sozusagen vor Ort immer auch Menschen gibt, denen man sich öffnen kann.

Ich verstehe trotzdem, dass viele Menschen Angst haben, sich zu öffnen, weil ja, die Vorurteile sind nach wie vor da, aber man kann sie nur durchbrechen, wenn man sich traut, darüber zu reden. Und wenn Menschen eben auch erfahren, dass Menschen mit Depressionen durchaus auch ganz anders sein können und auch ihre Qualitäten haben.

Matthias Klaus: Es gab auch immer so dieses: "Ein guter Künstler hat irgendwo einen Knall, das nährt ihn." Also, große Schriftsteller, Musiker, Maler sind depressiv und daraus gebären sie dann die Kunst. Ist es so?

Marie-Luise Gunst: Also, was auf jeden Fall stimmt, ich habe ein sehr, sehr schönes Comicbuch. Ich weiß gar nicht genau wie es heißt. Ich glaube, es heißt "Alle Tassen im Schrank" oder "Nicht alle Tassen im Schrank" und da werden mal so ganz, ganz viele Künstler aus allen Epochen benannt, die psychische Erkrankungen hatten. Und es stimmt, dass wir ganz schön viel aus unserer Kunstgeschichte streichen müssten, wenn wir sagen würden: "Diese Menschen streichen wir mal eben aus der Kunstgeschichte." Also, es ist schon so, dass es da scheinbar auch etwas Produktives gibt. Gleichzeitig bin ich auch kein Verfechter dieser These, dass man in der Depression bleiben muss, um produktiv zu sein. Das stimmt für mich einfach nicht. Und auch mein Therapeut hat irgendwann mal gesagt: "Sie haben doch diese Erfahrung jetzt. Es ist doch in Ihrem Kopf, in Ihrer Seele, in Ihrem Herzen ist das doch vorhanden. Sie können doch darauf zugreifen. Sie müssen da jetzt nicht drinbleiben, um daraus etwas produzieren zu müssen." Und das fand ich sehr, sehr hilfreich. Aber es gibt durchaus auch Kollegen, die sich aus diesen Gründen nicht oder nur eingeschränkt behandeln lassen, weil sie Angst haben, dass sie ihren Zugang zur Kunst oder zur Schwere, zur Melancholie, zu bestimmten Gefühlen verlieren. Aber ich kann das absolut nicht bestätigen.

Matthias Klaus: Sie haben sich dazu entschieden, Kunst zu machen, sogar Kunst, die davon handelt. Wie kam das?

Marie-Luise Gunst: Eigentlich aus einer großen Frustration heraus. Ich hatte ja, bevor ich das Depressionsalbum gemacht habe, schon viele, viele Jahre mit dem Essstörungsthema zu tun, war dort auch in Schulen unterwegs, habe also in Schulen und für Schüler, für Lehrer ein Stück gespielt, das sich mit dem Thema Essstörung auseinandersetzt und hatte das Gefühl, es entwickelt sich langsam etwas.

Man kann über psychische Erkrankungen reden und andere verstehen, worum es geht. Und dann war ich ja wieder in so einer ganz schweren depressiven Episode und habe versucht, mich Menschen in meinem Umfeld oder auch im weiteren Bekanntenkreis anzuvertrauen und habe gemerkt, dass ich mit Worten da einfach an Grenzen stoße, dass sie mich einfach nicht verstehen oder dass so eine Barriere dableibt. Und da habe ich irgendwie gedacht, wenn es die Worte nicht schaffen können, vielleicht kann es die Musik schaffen oder wieder mal die Kunst, die mir im Leben einfach oft gezeigt hat, dass sich damit manchmal noch Türen öffnen lassen, die sich sonst nicht öffnen. Und es war ein Experiment, ohne dass mir vorher klar war, in welche Richtung das gehen könnte. Und ich bin aber sehr, sehr dankbar, dass ich das gemacht habe, weil ich unglaublich schöne Begegnungen dadurch mit Betroffenen  hatte und sich dieser Wunsch, ja spürbar zu machen, wie sich eine Depression anfühlen kann, dadurch auch zu einem großen Teil erfüllt hat und es bis heute anhält, dass ich über dieses Album mit Menschen ins Gespräch komme, dass mir sogar Menschen auch sagen, dass es für sie ein Stück Rettungsanker war in der Klinikzeit oder in der Therapiezeit. Und das hätte ich nie erhofft, aber es ist total schön, dass das passiert ist und dass Musik und dass Kunst das kann. Das finde ich einfach immer wieder großartig.

Matthias Klaus: Dann hören wir doch mal ein ganz bisschen, und zwar direkt das erste Stück des Albums "Depression Unplugged" von Marie-Luise Gunst "Tiefsee.Tief.Seele".

Liedtext von "Tiefsee.Tief.Seele":

"Tiefsee. Tief. Seele. Ich sink bis auf den Grund. Mein Wrack liegt da, im Dreck, MS Gesund. Ich muss es heben. Kaputte Stellen kitten. So viele Löcher von Stürmen und von Klippen. Ich bin ein Tiefseetaucher, taumel durch das Meer. Doch hier am Grund der Dinge fällt das Atmen schwer. Und das aufgewühlte gestern trübt die Sicht. Ich muss weiter. Immer weiter. Ich muss ans Licht. Ich muss ans Licht. Ich muss ans Licht."

Matthias Klaus: Das war jetzt der erste Song auf diesem Album. Das Album ist aus dem Jahr 2018. Das ist ja doch so richtig die Fahrt nach unten in dem Lied, hat man den Eindruck. Das bleibt ja aber nicht so, am Ende geht es doch aufwärts, wenn ich diese Songs richtig verstehe.

Marie-Luise Gunst: Das ist auf jeden Fall so, es wäre auch schrecklich, wenn es in dem Tief bleiben würde. Und ja, lustigerweise habe ich die Songs auch therapiebegleitend geschrieben. Man kann also sehr gut auch den Weg vom Dunkel ins Helle nachvollziehen, wenn man das Album mal komplett durchhört. Und da sind durchaus auch einige Therapieansätze dabei, die ich direkt sozusagen nach so einer Therapiesitzung mir auch notiert habe, wo ich gedacht habe: "Ah, das könnte jetzt wieder ein spannender Zugang zu einem Song sein" oder Themen, die mich dann begleitet haben und mir wieder einen neuen Zugang offenbart haben zu mir oder auch zu Menschen in meinem Umfeld. Und da war die Therapie sehr hilfreich, aber eben auch das Schreiben der Songs dazu.

Matthias Klaus: Sie sind auch Botschafterin der Deutschen Depressionsliga e.V. Was ist da Ihre Aufgabe und was macht die Liga überhaupt?

Marie-Luise Gunst: Die Deutsche Depressionsliga ist eine Betroffenenvereinigung, wobei wir Betroffene so verstehen, dass das die Betroffenen selber sind, aber auch alle Angehörigen, die mit dem Thema zu tun haben. Und wir versuchen uns deutschlandweit einzusetzen, einfach auch für die Entstigmatisierung der Thematik. Wir sind auch immer an wichtigen Kampagnen dran, zum Beispiel als es mit Spahn darum ging, die Psychiatrieversorgung anders aufzustellen. Da haben wir sehr, sehr schnell reagiert. Es gibt immer wieder auch Initiativen, die dann eben Signale setzen in Richtung der Politik.

Jetzt zum Beispiel eben, dass es nicht hinnehmbar ist, dass man 22 Wochen auf einen Therapieplatz warten muss. Solche Dinge machen wir eben neben Öffentlichkeitsarbeit, die klar macht, wie Depressionen aussehen, wie Menschen mit Depressionen sind. Und wir geben uns auch gegenseitig Halt und Kraft. Und ich bin einfach mit dabei und versuche, auch meine Öffentlichkeit oder meine Konzerte, alles was ich tue, da auch ein bisschen mit einzusetzen, um da eben auch mehr Reichweite zu schaffen für die Thematik, weil mir die ja selber einfach auch so am Herzen liegt.

Matthias Klaus: Stellen wir uns mal vor, uns hört hier jemand zu, der oder die gerade sich wiedererkennt in dem, was Sie hier erzählen? Wann ist der Moment, dass man als Mensch, der sich so ein bisschen betroffen fühlt, ins Handeln kommen muss? Und wann hat man einfach nur gerade mal einen schlechten Tag? Was würden Sie sagen: Wann ist so ein Alarmsignal da für jemanden, der das hört oder jemanden, der drüber redet mit jemandem und vielleicht gar nicht so weiß: Wie schlimm ist das jetzt bei mir? Wie kriege ich das raus? Wann bin ich gefährdet, dass es wirklich schlimm wird? Oder wann ist es einfach nur: Ach, das vergeht schon wieder. Es ist halt gerade ein grauer Novembertag?

Marie-Luise Gunst: Also, Sie haben ja gerade schon was Gutes benannt, nämlich: Vergeht es wieder oder vergeht es nicht wieder? Das heißt, wenn ich über längere Zeit in diesem Gefühl drin bin und merke: Ich habe keinen Antrieb mehr, nichts macht mir mehr Freude, ich habe vielleicht keinen Appetit mehr, ich habe keine Lust mehr, mit Menschen in Kontakt zu treten, es geht mir stetig schlechter ... Und das ist mal nicht nur eine Phase, die ein paar Tage anhält oder eine so genannte Anpassungsstörung, die zum Beispiel passieren kann, wenn schwierige Ereignisse im Leben vorliegen. Das kann durchaus vorbeigehen, aber wenn es eben länger anhält, dann sollte man sich unbedingt Hilfe holen. Und ich bin eh immer der Meinung, es ist besser, sich zu früh Hilfe zu holen als zu spät. Man kann also mit einer Problematik oder einer Sorge auch mal durchaus bei der Telefonseelsorge anrufen oder bei anderen Beratungs-Hotlines, die dann auch eine Einordnung geben und die einem besser sagen können: "Ja, es ist vielleicht schon auf dem Weg in eine Depression", und oft ist dann der Hausarzt oder die Hausärztin der schnellste und beste Weg, weil die tatsächlich dann in eine weiterführende Therapie vermitteln können. Oder aber, wenn das gerade nicht möglich ist, eben zum Beispiel auch schon mal mit dem Patienten oder mit der Patientin über Medikamente nachdenken können oder über andere Schritte oder Möglichkeiten, wie man jetzt auch so eine Suche nach einem Therapieplatz hinbekommen kann oder wie man so eine Zeit überbrückt, bis man tatsächliche Hilfe bekommt. Und ja, also lieber zu früh Hilfe holen als zu spät.

Matthias Klaus: Wo man sich Hilfe holen kann, auch die Deutsche Depressionsliga wird hier in den Shownotes verlinkt. Auch ein Link zur Musik von Marie-Luise Gunst zu zum Beispiel dem Album "Depression Unplugged“. Sie haben aber auch noch andere Sachen gemacht. Worüber singen Sie noch? Nur mal so zum Schluss kurz gefragt.

Marie-Luise Gunst: Das Meer, also die Nachhaltigkeit und das Meer, liegen mir noch sehr am Herzen. Und dann gibt es noch ein zweites Album über eine japanische Reparaturmethode an Porzellan. Und zwar ist es in Japan so, dass wenn Porzellan kaputt geht, es nicht weggeworfen wird, sondern es wird mit echt Gold geklebt und veredelt. Das heißt, etwas, das kaputt gegangen ist, ist hinterher wertvoller als vorher. Und das ist immer so ein bisschen mein Wunsch für uns als Gesellschaft, dass wir uns auch mit unseren Rissen und Wunden zeigen und die eigentlich als was Gutes, als was Goldenes begreifen und nicht als was Schlechtes, als einen Makel, sondern es ist eher etwas, was unsere Krisenkompetenz hervorholt und was man nach außen zeigen sollte.

Matthias Klaus: Schönes, optimistisches Schlusswort. Vielen Dank, Marie-Luise Gunst, dass Sie heute Zeit für uns hatten.

Marie-Luise Gunst: Vielen, vielen Dank.

Matthias Klaus: Das war "Echt behindert!" Mein Name ist Matthias Klaus.

Jingle: Mehr folgen unter dw.com/echtbehindert.

Mehr über Marie-Luise Gunst gibt es auf der Webseite der Musikerin 

und auf ihrem Instagram-Account.  

Dieses Transkript wurde zum Zwecke der Barrierefreiheit unter Nutzung einer Spracherkennungs-Software erstellt und danach auf offensichtliche Fehler hin korrigiert. Es erfüllt nicht unsere Ansprüche an ein vollständig redigiertes Interview. Wir danken für das Verständnis.