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Das vergessene Schicksal der NS-Zwangsarbeiter

Nina Werkhäuser | Luisa von Richthofen
1. September 2023

Millionen Zwangsarbeiter wurden während des 2. Weltkriegs in Deutschland ausgebeutet. Viele Schicksale liegen im Dunkeln. Damit will sich eine junge Frau aus Belarus nicht abfinden.

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Ein Bild in der Ausstellung im Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit: Eine Gruppe von Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern aus der Sowjetunion kommen im April 1944 im Lager Meinerzhagen an
Ein Bild in der Ausstellung im Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit: Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern aus der Sowjetunion kommen im April 1944 im Lager Meinerzhagen an Bild: NS-Zwangsarbeit Dokumentationszentrum Berlin

Als ihre Großtante starb, war Hanna S. acht Jahre alt. Zu jung, um zu verstehen, was der Schwester ihrer Oma widerfahren war: Sie musste in Nazi-Deutschland Zwangsarbeit leisten. So wie 13 Millionen andere Männer, Frauen und Kinder auch. Viele von ihnen wurden aus den von den Nationalsozialisten besetzen Ländern ins Deutsche Reich verschleppt und dort zu harter Arbeit gezwungen. 

Eine lückenhafte Familiengeschichte

"Ich habe eher zufällig vom Schicksal meiner Großtante erfahren", erzählt Hanna S., die aus Belarus kommt und ihren vollen Namen nicht im Artikel lesen möchte. Wir treffen sie in Berlin, wo sie ihren Sommerurlaub mit einem Seminar zum Thema NS-Zwangsarbeit verbringt. "In meiner Familie wurde wenig darüber gesprochen", erzählt die lebhafte Frau mit den langen braunen Haaren. "Das finde ich sehr schade." Die Informationen, die Hanna über ihre Großtante hat, sind dementsprechend dürftig. "Das ist die Lücke in meiner Familiengeschichte."

Die Belarussin Hanna S. schaut aus dem Fenster einer ehemaligen Zwangsarbeiter-Baracke
Hanna S. aus Belarus sucht nach Antworten zu ihrer Familiengeschichte. Aus Sicherheitsgründen will sie nicht erkannt werden. Bild: Luisa von Richthofen/DW

Hanna weiß nur, dass ihre Großtante Brot backen musste. Aber sie hofft, eines Tages mehr herauszufinden. Auch deshalb ist sie nach Berlin gekommen, in das Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit, das im Südosten der Stadt nahe an der Spree liegt.

Hier nimmt sie zusammen mit anderen Geschichtsinteressierten an einem zehntägigen Studienseminar der Aktion Sühnezeichen Friedensdienste teil, informiert sich ausführlich über das Thema NS-Zwangsarbeit. Außer ihr stammen fünf weitere Teilnehmer aus Belarus. "Das Thema berührt mich, aber es ist auch emotional anstrengend", sagt die 30-Jährige, die als Lehrerin arbeitet. Später will sie auf eigene Faust in Archiven weitere Nachforschungen anstellen.

Baracken als Unterkunft

Während sie das erzählt, schaut Hanna auf die kahlen Wände einer Baracke, in der während der NS-Zeit Zwangsarbeiter untergebracht waren. Sie ist Teil eines ehemaligen Barackenlagers, das ab 1943 errichtet wurde und heute auf dem Gelände des Dokumentationszentrums NS-Zwangsarbeit als authentischer Erinnerungsort dient.

Der Baum vor dem Fenster stand schon damals, ebenso wie die Häuser, aus denen die Bewohner der umliegenden Häuser auf das Barackenlager blicken konnten - und sehen konnten, wie die Zwangsarbeiter früh morgens zu den umliegenden Fabriken liefen und abends wieder zurückkamen. Mit wenig Fantasie sind die Enge, die Kälte und die schrecklichen hygienischen Zustände in der Baracke vorstellbar, von denen viele Zeitzeugen später berichteten. Privatsphäre gab es nicht, noch nicht einmal im Raum mit den Toiletten am Ende des Ganges.  

Ein kahler Raum in einer ehemaligen Baracke für Zwangsarbeiter mit der Aufschrift "Toiletten" und einem Fenster. Auf dem Boden ist zu erkennen, wo die Toiletten ehemals befestigt waren.
Allein in Berlin schufteten eine halbe Million Zwangsarbeiter. Viele hausten in Baracken ohne jegliche Privatsphäre.Bild: Nina Werkhäuser/DW

"An jeder Ecke ein Lager"

Am Beispiel der damaligen Reichshauptstadt Berlin lässt sich besonders gut illustrieren, welches enorme Ausmaß der Einsatz von Zwangsarbeitern hatte. Berlin war nicht nur die Machtzentrale der Nationalsozialisten, sondern auch Standort großer Rüstungs- und Industriebetriebe. Diese hatten einen hohen Bedarf an Arbeitskräften, zumal viele deutsche Männer an der Front und somit nicht verfügbar waren.

Allein in Berlin wurde etwa eine halbe Million Männer, Frauen und sogar Kinder zur Arbeit gezwungen. "Zwangsarbeiter waren überall in Berlin", erklärt der Historiker Roland Borchers, der am Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit forscht. "An jeder Ecke war ein Lager." Im heutigen Stadtbild ist davon kaum mehr etwas zu erkennen.

Jede Markierung steht für ein ehemaliges Zwangsarbeiter-Lager im Berliner Stadtteil Kreuzberg. In der Datenbank können Nutzer nach bestimmten Straßen im heutigen Berlin suchen und sich nähere Informationen zu ehemaligen Lager-Standorten anzeigen lassen.
Jede Markierung steht für ein ehemaliges Zwangsarbeiter-Lager im Berliner Stadtteil Kreuzberg. In der Datenbank können Nutzer nach bestimmten Straßen im heutigen Berlin suchen und sich nähere Informationen zu ehemaligen Lager-Standorten anzeigen lassen.Bild: Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit

Eine Datenbank, die wächst

Etwa 3000 Lager für Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter gab es in Berlin, schätzen Historiker. Neben einfachen Baracken dienten auch Lagerräume, Dachböden oder Privatwohnungen als Sammelunterkünfte. 2000 dieser Lager sind bereits in einer öffentlich zugänglichen Datenbankdokumentiert, die Borchers regelmäßig mit weiteren Daten füttert. "Wir finden immer wieder neue Lager." 

Zwangsarbeiter anfordern konnte in der NS-Zeit jeder Betrieb - von der großen Waffenfabrik bis zum Bäcker um die Ecke. "Der musste zum Arbeitsamt gehen, seinen Bedarf darlegen und glaubwürdig machen, dass sein Betrieb wichtig ist", erklärt Borchers. "Dann hat er einen Zwangsarbeiter zugeteilt bekommen."

Hanna im kahlen Gang einer ehemaligen Zwangsarbeiter-Baracke
Geschichtsunterricht statt Strand: In ihrem Sommerurlaub beschäftigt sich Hanna mit dem Thema NS-Zwangsarbeit. Bild: Luisa von Richthofen/DW

Die Perspektive der Opfer

Nach dem Zweiten Weltkrieg fand das Thema NS-Zwangsarbeit lange wenig Beachtung. Erst Mitte der 1980er Jahre begann die Aufarbeitung, die bis heute anhält. Einige Aspekte seien noch wenig beleuchtet, betont Borchers. Vor allem über die Perspektiven und Erfahrungen der Opfer wisse man zu wenig. Dass in vielen Familien aus Scham oder aus anderen Gründen wenig über das Thema gesprochen wurde, hat auch Hanna erlebt. Umso wichtiger findet sie es, sich mit dem Thema NS-Zwangsarbeit zu befassen, "damit solche Grausamkeiten sich in der Zukunft nicht wiederholen".