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Das Verbrechen an den Kindern der "Schwarzen Schmach"

Stefan Neumann
9. Januar 2021

In der NS-Zeit wurden Kinder in Deutschland zwangssterilisiert, wenn sie aus Beziehungen mit Kolonialsoldaten stammten. Eine DW-Doku erzählt ihr Schicksal.

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Beitrag Kinder der Schande | Pressebild DOCDAYS Productions GmbH
Bild: DOCDAYS Productions GmbH

Josef Kaiser war 16 Jahre alt, als ihn zwei Männer der Gestapo aufgriffen und ins Städtische Krankenhaus Ludwigshafen brachten. Dort wurde er gegen seinen Willen sterilisiert. So wie ihm erging es auch seiner Schwester - und Hunderten weiteren Jugendlichen, deren einziger Makel war, als Kind einer deutschen Frau und eines Soldaten aus den französischen Kolonien geboren worden zu sein.

Französische Kolonialsoldaten im Rheinland

Der brutale Eingriff bildete den Höhepunkt einer Entwicklung, die 17 Jahre zuvor mit der alliierten Rheinlandbesetzung begann, die Deutschland im Versailler Vertrag auferlegt worden war. Von den 100.000 Soldaten, die Frankreich im Januar 1920 entsandte, stammte rund ein Fünftel aus französischen Kolonien. So wie Josefs Vater, der aus Madagaskar kam.

Blick in ein altmodisches Behandlungszimmer, in dem ein Gynäkologenstuhl steht. Die Wände sind in einem sterilen hellblau gekachelt.
Auf einem solchen Stuhl wurden die Kinder im Sommer 1937 zwangssterilisiertBild: DOCDAYS Productions GmbH

Ihre Anwesenheit führte in der aufgeheizten politischen Atmosphäre der jungen Weimarer Republik schnell zu Spannungen. Nach dem Verlust der deutschen Kolonialgebiete wurden sie als ungeheure Demütigung empfunden. Mit reger Beteiligung staatlicher und ziviler Organisationen kam es unter dem Titel "Die Schwarze Schmach" zu einem rassistischen Propagandafeldzug. In Flugblättern, Pamphleten und Artikeln wurden die Kolonialsoldaten als "wilde Bestien" dargestellt, die vergewaltigend und mordend über die Zivilbevölkerung herfallen.

Die "Schwarze Schmach" und der rassistische Grundkonsens

Träger dieser Kampagne waren nicht nur nationalistische oder konservative Kreise. Rassismus und Eugenik waren tief in der deutschen Gesellschaft verwurzelt. Es waren SPD-Politiker wie Reichspräsident Ebert oder Außenminister Köster, die den französischen Einsatz von Truppen "niederster Kulturstufe" als "seelisches Verbrechen" am deutschen Volk brandmarkten.

Eine Karikatur zeigt einen Menschenaffen, der eine weiße Frau verschleppt. Das Maul hat er gefährlich aufgerissen und fletscht seine Zähne.
Die Satirezeitschrift Kladderadatsch karikiert die Männer als wilde AffenBild: Universitätsbibliothek Heidelberg

Zum politischen Kalkül gehörte, dass dieser Rassismus auch im Ausland anschlussfähig war, um zugleich die Bestimmungen des Versailler Vertrags zu diskreditieren. Auf der Grundlage gemeinsamer Vorurteile wollte man internationale Solidarität mit Deutschland wiederherstellen. Weltweit erschienen, unterstützt durch Propagandamaterial des Auswärtigen Amtes, diffamierende Artikel über die Kolonialsoldaten. Wie die des britischen Labour-Abgeordneten Edmund Dene Morel, in denen er Frankreich beschuldigt, "wilde Schwarze" und "primitive Barbaren" auf die deutsche Bevölkerung loszulassen, deren "unbändige Bestialität" bereits zahlreiche Vergewaltigungen nach sich gezogen hätten. Obgleich die Propaganda nur langsam verebbte, blieb der intendierte außenpolitische 'Erfolg' aus.

Von der "Schwarzen" zur "Weißen Schmach"

Den umfassenden Bemühungen zum Trotz kam es zu zahlreichen Liebesbeziehungen zwischen Kolonialsoldaten und deutschen Frauen. Für die Nationalisten ein Affront, war doch gerade die "Schändung der deutschen Frau" eines ihrer Hauptmotive. Der weibliche Körper stand in der Hetzkampagne sinnbildlich für den deutschen 'Volkskörper' – beide galt es 'reinzuhalten'. Die deutsche Propaganda reagierte entsprechend: Als ehrlose "Weiße Schmach" wurde das Verhalten der Frauen angeprangert. Die Kinder aus diesen Beziehungen nannte man fortan einfach "Rheinlandbastarde".

Filmstill zeigt einen Fluss, auf den drei Kinder projiziert sind. Die Szene stammt aus der Doku "Kinder der Schande".
Die DW-Doku "Kinder der Schande" ist ab dem 10.01.2021 zu sehenBild: DW

Sie wuchsen mit der Erfahrung von Ausgrenzung auf. Ihre bloße Existenz und ihre dunklere Hautfarbe blieb für Nationalisten und Revanchisten eine ständige Erinnerung an die Kriegsniederlage - und an ihre Wehrlosigkeit gegenüber den Bestimmungen des Versailler Vertrags.

Zwangssterilisierung im NS-Staat

Bereits 1923 begannen die Behörden der Weimarer Republik mit der systematischen Registrierung der Kinder. 1927 drängte ein Regierungsbeamter seine Vorgesetzten im Reichsgesundheitsministerium dazu, die Möglichkeit einer Unfruchtbarmachung durch "einen gänzlich schmerzlosen Eingriff" zu prüfen. Man lehnte ab: Zwangsmaßnahmen seien aufgrund der Gesetzeslage unmöglich, zumal die Kinder mit deutscher Mutter auch deutsche Reichsangehörige seien.

Ein Schwarzweißfoto zeigt eine weiße Frau Arm in Arm mit einem Soldaten aus Frankreichs Kolonien in Uniform.
Nach dem Ersten Weltkrieg sind Beziehungen zwischen deutschen Frauen und französischen Beesatzern tabu.Bild: DW

Es handelte sich jedoch nur um einen Aufschub. Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurde die bereits begonnene Registrierung der Kinder erweitert. Einige wurden für die perfide NS-Rassenideologie vermessen und fotografiert. 1937 folgte auf geheimen Führerbefehl die Gründung der "Sonderkommision 3" der Gestapo, die schließlich die illegale Sterilisierung der Kinder organisierte. 436 Fälle sind dokumentiert, die Dunkelziffer liegt weit höher.

Verfahren eingestellt

Zwei Jahre nach dem Ende der Naziherrschaft kam es zum Prozess. Angeklagt wurden drei verantwortliche Ärzte, alle waren Mitglied des Nationalsozialistischen Deutschen Ärztebundes (NSDÄB). Tatvorwurf war hundertfache vorsätzliche Körperverletzung mit anschließendem Verlust der Zeugungsfähigkeit. Keiner der Angeklagten zeigte während des Verfahrens ein Unrechtsbewusstsein. Zu ihrer Verteidigung brachten sie lediglich hervor, sie hätten "auf Befehl des Führers" gehandelt.

Wenig überraschend wurde die Strafverfolgung erst ausgesetzt und später ganz eingestellt. Die drei Angeklagten fanden problemlos ihren Weg in die deutsche Nachkriegsgesellschaft, einer wird schon wenige Jahre später zum Vorsitzenden der Ärztekammer Saar gewählt. Ihren Opfern blieb die Empfindung, ein unerwünschter Schandfleck zu sein, bis an ihr Lebensende. "Ich hatte keine Jugend und durch diese Operation auch keine Zukunft mehr", so der inzwischen verstorbene Josef Kaiser.