#CulotteGate: Frankreichs #Aufschrei
14. Mai 2016Eine Journalistin bückte sich, um einen Kugelschreiber aufzuheben. Der französische Finanzminister Michel Sapin bemerkt es. "Er kann seine Hand nicht zurückhalten und murmelt: 'Ah, aber was zeigen Sie mir denn da?' und lässt das Gummibündchen des Slips der Journalistin mit tief sitzenden Hosen schnalzen." So beschrieben die Journalistinnen Stéphanie Marteau und Aziz Zemouri in ihrem Buch eine Szene, die sich im Januar 2015 beim Weltwirtschaftsforum im Schweizer Davos abgespielt habe. Der Buchtitel,"L'Élisée Off", spielt auf die Intrigen und Machenschaften hinter den Türen des Pariser Republikpalastes an. Sapin gilt als Vertrauter des französischen Präsidenten François Hollande.
Seitdem der Vorfall bekannt geworden ist, diskutiert die Netzgemeinde unter dem Hashtag #CulotteGate über sexuelle Belästigung in Frankreich. "Culotte" ist das französische Wort für Unterhose. In den traditionellen Medien setzt sich die Debatte fort: Über 500 Frauen und Männer lancierten in der Zeitung "Libération" eine Petition gegen sexuelle Belästigung durch Politiker. "Es ist für Frauen generell schwierig, über diese Art von Gewalt zu sprechen, aber im politischen Mikrokosmos ist dies zweifellos verstärkt", heißt es in dem Aufruf. Hinter vorgehaltener Hand seien Übergriffe oft bekannt, es werde aber nichts dagegen unternommen.
"Atmosphäre des Schweigens"
Cornelia Möser ist Kulturwissenschaftlerin und Geschlechterforscherin am Centre nationale de la recherche scientifique, der größten französischen Forschungsorganisation in Paris. In der politischen Sphäre Frankreichs herrsche eine "Atmosphäre des Schweigens", meint sie. "In der Politik geht es um Macht. Überall, wo es um Macht und Geld geht, funktionieren althergebrachte Männerbünde noch viel zu gut. Da wird sich gegenseitig geschützt."
Davon zeugt auch der Fall Denis Baupin. Am Weltfrauentag war er einer von vielen französischen Politikern, die mit einer Twitter-Kampagne auf Sexismus aufmerksam machen wollten. Dafür legte der Vize-Parlamentspräsident und Grünen-Politiker roten Lippenstift auf und posierte vor der Kamera. Bei so viel Heuchelei platzte einigen Parlamentarierinnen der französischen Nationalversammlung der Kragen. Denn Baupin galt bislang nicht als Verfechter von Frauenrechten. Das Gegenteil wurde bekannt: Jahrelang soll er weibliche Parteimitglieder und Mitarbeiterinnen schikaniert und sexuell belästigt haben. In der Partei wusste man offenbar davon.
Baupins öffentliches Bekentniss bewegte Sandrine Rousseau, Sprecherin der französischen Grünen, dazu von einem Vorfall beim Parteitreffen im Oktober 2011 zu berichten. Damals soll Baupin sie gegen eine Wand gedrückt, an der Brust festgehalten und versucht haben, sie zu küssen. Sieben weitere Zeuginnen traten danach mit ähnlichen Anekdoten an die Öffentlichkeit. Mehrere Frauen berichten, Baupin habe ihnen wochenlang aufdringliche SMS geschickt, andere erzählten von anzüglichen Bemerkungen. Gegen Baupin läuft inzwischen ein Ermittlungsverfahren. Im Gegensatz zu Deutschland gilt in Frankreich seit 2012 ein Gesetz, das sexuelle Belästigung mit bis zu drei Jahren Haft bestraft.
Sexismus als "Teil des Systems"?
Dass sexuelle Belästigung in Politikerkreisen häufiger zum Thema wird, dafür macht Luc Rosenzweig das "Gesetz des Dschungels" verantwortlich. Rosenzweig ist ehemaliger Chefredakteur der französischen Tageszeitung Le Monde. Die Politische Sphäre sei "ein sehr hartes Milieu, indem man sich behaupten muss", meint er. In einer solchen Atmosphäre käme sexuelle Belästigung häufiger vor als in anderen Teilen der Gesellschaft. Im Falle Baupins habe dessen vermeintliche Diffamierung auch parteiinterne Gründe. Ein systemisches Problem sieht er nicht.
Cornelia Möser widerspricht. Sexismus sei "Teil eines Systems, mit dem Frauen aus der Politik herausgehalten werden", sagt sie. Ihre Beschwerden würden "oft nicht so ernst genommen oder als Kavaliersdelikt abgetan". Dadurch werde sexuelle Gewalt banalisiert und die Opfer müssten die Konsequenzen tragen - frei nach dem Motto: "Dann mach doch die Bluse zu". So lautet der Titel des Buches, dass die Publizistin Birgit Kelle nach der Diskussion um Rainer Brüderle schrieb. Anfang 2013 hatte die "Stern"-Journalistin Laura Himmelreich von anzüglichen Bemerkungen des FDP-Politiker berichtet. Gleichzeitig löste der Hashtag #Aufschrei in Deutschland eine breite gesellschaftliche Diskussion über Alltagsrassismus aus.
Zwischen Aufmerksamkeit und Zwecklosigkeit
Die Journalistin und Bloggerin Helga Hansen war eine der ersten, die unter dem Hashtag twitterte. Solche Kampagnen können Aufmerksamkeit für das Thema generieren, meint sie. "Gerade bei #Aufschrei haben wir gesehen, dass viele Betroffene, darunter auch einige Männer, zum ersten Mal das Gefühl hatten, mit ihren Problemen nicht alleine zu sein." Das gelte auch für die Initiative #ausnahmslos, mit der sich die Verfasserinnen gegen jene Populisten wenden, die die Übergriffe auf Frauen an Silvester in Köln für ihre Zwecke nutzen.
Genau deshalb sieht die Kulturwissenschaftlerin Möser noch einen anderen Mehrwert: "Solche Kampagnen sind wichtig, weil sie zeigen, dass der Feminismus es schaffen kann, eigene Inhalte zu vermitteln und der Filterung durch die Medien zu entgehen." Heute werde Feministinnen häufig nur dann Gehör geschenkt, wenn es in einen "rassistischen Diskurs" passt, es beispielsweise um die "Nicht-Integrierbarkeit von Muslimen oder Geflüchteten" gehe, argumentiert sie.
Bei Helga Hansen macht sich dennoch auch Frustration breit. "Wir debattieren jetzt seit #Aufschrei über Übergriffigkeiten im öffentlichen Raum, aber es ist immer noch nichts passiert." Zwar solle das Gesetz gegen sexuelle Nötigung und Vergewaltigung bald ein wenig verschärft werden. Aber es gebe immer noch keinen grundlegenden Wandel hin zu dem Paradigma, das Feministinnen seit Jahren fordern und wonach auch ein Klaps auf den Po, ein Schnalzen des Unterhosenbundes oder ein vermeintlich witziger Spruch über das Dekolleté einer Journalistin bestraft werden müsste: "Nein heißt Nein".