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COVID-19: Von topfit zu todkrank

Gudrun Heise
20. November 2020

Peter Schmidtgen ist 66 Jahre alt, 1,82 Meter groß und schlank. Er war sportlich und rundum fit. Dann infizierte er sich mit dem Coronavirus und war von jetzt auf gleich dem Tod näher als dem Leben.

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Corona-Patient Peter Schmidtgen
Bild: Privat

"Ende März hatte ich leichte Kopfschmerzen. Ich war beim Arzt, aber der hat die Symptome erst einmal ein bisschen abgetan, nicht so ernst genommen." Die Diagnose lautete 'Erkältung' denn Schmidtgen hatte Schnupfen und Husten. Die Symptome waren jedoch hartnäckig und gingen einfach nicht weg.

Der Arzt verschrieb Antibiotika, aber die halfen nicht. Schmidtgen ging erneut zu seinem Hausarzt, der dieses Mal anders reagierte. "Er hat sofort einen Krankenwagen gerufen, der mich in die nächste Klinik gefahren hat." Dort wurde er auf Corona hin untersucht. Der Test fiel positiv aus. 

"Zwei Tage habe ich dort im Krankenhaus gelegen. Es ging mir immer schlechter und schlechter. Dann haben mich die Ärzte ins künstliche Koma versetzt." Das war am 4. April.

Keinerlei Erinnerung

Zwei Monate lag Schmidtgen im Koma, seine Lunge versagte, er bekam einen Luftröhrenschnitt, wurde künstlich beatmet. Erinnern kann er sich an all das nicht mehr. Es sei einfach nur eine große Lücke, die Zeit wie ausgelöscht.

"Er leidet an einer sogenannten retrograden Amnesie", erklärt die behandelnde Ärztin Silvia Lindenberg. Sie betreut den Patienten, seit er im Juni ins Rheinisch-westfälische Zentrum für Frührehabilitation und Beatmung in Nümbrecht verlegt wurde. Diese Art von Spätfolge treffe viele Corona-Patienten. "Er erinnert sich an so gut wie nichts mehr, etwa wie er überhaupt ins Krankenhaus gekommen und was danach passiert ist. All das sind bei ihm höchstens noch schemenhafte Erinnerungen", sagt die Neurologin.

Dr. Silvia Lindenberg
Silvia Lindenberg ist Peter Schmidtgens behandelnde Reha-ÄrztinBild: Dr. Becker Rhein-Sieg-Klinik

Auch zu den Symptomen, die dann auftraten und darüber, wie er die erste Phase der Erkrankung empfunden hat, kann Schmidtgen nichts sagen. All das ist einfach weg.

Seine Frau und seine Ärzte haben ihm dann irgendwann erzählt, was eigentlich passiert war. "Aber es war so, als hätte man nicht über mich gesprochen, sondern über jemand ganz anderen", sagt der 66-Jährige.

Ein einziger Alptraum

Schmidtgen zeigt die typischen Krankheitsbilder eines COVID-Patienten: "Er hatte eine tiefe Beinvenenthrombose, eine doppelte Lungenembolie - jeweils links und rechts. Er hatte multiple Hirninfarkte, die zusätzlich noch eingeblutet sind", sagt Lindenberg. Sie hat schon etliche schlimme und nahezu hoffnungslose Fälle in ihrer Reha-Abteilung behandelt. Der Fall von Peter Schmidtgen aber ist einer der schlimmsten Fälle, die die Ärztin bislang gesehen hat.

"Seine Lunge war in einem sehr schlimmen Zustand. Das Organ hatte seine Arbeit fast komplett aufgegeben, weil es keinen Sauerstoff mehr aufnehmen konnte", sagt sie. Letztlich sei der Patient dann an eine künstliche Lunge angeschlossen worden.

"Er hatte mehrere Schlaganfälle, war linksseitig gelähmt, konnte seinen linken Arm so gut wie gar nicht bewegen", beschreibt Lindenberg die Situation. Sie hat langjährige Erfahrung mit Reha-Patienten, auch mit solchen, die an COVID-19 erkrankten, unter heftigen Spätfolgen gelitten haben und teilweise noch immer leiden - so wie Schmidtgen. 

Dr. Silvia Lindenberg
Röntgenbild eines Corona-Patienten - die weißen Bereiche zeigen die zerstörte LungeBild: Dr. Becker Rhein-Sieg-Klinik

"Die Kollegen in anderen Krankenhäusern, in die wir ihn ein paar Mal verlegen mussten, haben mir erzählt, dass sie schweigend vor diesen Bildern von Peter Schmidtgens Lunge gesessen hätten und einfach nur fassungslos gewesen seien", erzählt Lindenberg. "Irgendwann hat sich das Lungengewebe zu einem reinen Narbengewebe entwickelt. Aber damit kann niemand atmen."

Zurück ins Leben

Als die Ärzte Peter Schmidtgen schließlich aus dem Koma holten, wog er gerade noch um die 60 Kilo, sein Gesicht war blass und eingefallen. "Als ich mich zum ersten Mal im Spiegel gesehen habe, war ich maßlos erschrocken. Ich war eigentlich immer schlank, aber jetzt bin ich dürr." Von ehemals 77 Kilo Körpergewicht sind nur noch um die 60 Kilo geblieben. Zuerst habe er nur flach liegen können. An etwas anderes war gar nicht zu denken.

Verschiedene Therapeuten kümmern sich um Schmidtgen, versuchen, ihn wieder einigermaßen auf die Beine zu bekommen. Es ist ein zähes Unterfangen, aber seine positive Einstellung und sein Humor helfen ihm, denn beides hat er nicht verloren. "Drei bis viermal pro Tag kommen die Therapeuten zu mir. Das ist so ein bisschen wie Zuckerbrot und Peitsche, denn von Natur aus bin ich eher faul. Aber es hilft ja alles nichts. Ich will ja wieder zurück in mein Leben." 

Corona-Patient Schmidtgen am See.
Vor seiner COVID-19-Erkrankung war Schmidtgen kerngesundBild: privat

Mithilfe von Ärzten, Therapeuten und Pflegern geht es für Schmidtgen in kleinen Schritten nach vorne. Ganz allmählich kann er einige der Dinge wieder einigermaßen selbständig machen, die für die meisten selbstverständlich erscheinen. "Ich kann mich heute zum Beispiel komplett selber waschen. Das kriege ich mittlerweile schon irgendwie hin. Vor ein paar Wochen wäre das gar nicht möglich gewesen. Da bin ich im Bett gewaschen worden. Das war furchtbar."

Kurze Strecken kann er jetzt gehen. "Als er am Anfang bei uns war, habe ich gedacht: Meine Güte, was können wir mit ihm schaffen? Wie weit bekommen wir ihn wieder hin? Aber er hat meine ursprünglichen Prognosen übertroffen. Wenn ich daran denke, in welchem Zustand er noch vor eineinhalb Monaten war", resümiert Lindenberg, "da hat er es noch nicht einmal geschafft, vom Bett zum Balkon zu gehen. Und das sind vielleicht vier Schritte." 

Seit Monaten begleitet die Ärztin ihren Patienten intensiv und freut sich mit ihm über jeden noch so kleinen Fortschritt, über jeden Erfolg. 

Corona-Patient Schmidtgen - Gletscher in Argentinien
Schmidtgen am Morena-Gletscher in ArgentinienBild: privat

Ich doch nicht

Vorerkrankungen hatte Schmidtgen keine. Abgesehen von seinem Alter gehörte er nicht zur Risikogruppe - kein Übergewicht, kein hoher Blutdruck, kein Stubenhocker, der sich nicht bewegt. "Ich war immer gesund, sportlich aktiv - ich bin viel Fahrrad gefahren und im Winterurlaub Ski. Krank waren immer nur die anderen, aber ich doch nicht. Ich dachte immer: Das kann dir nicht passieren. Mit Krankheiten hatte ich nie etwas zu tun."

Warum es ihn getroffen hat, ist Schmidtgen vollkommen rätselhaft. Er habe sich immer als absolut gesunden Menschen gesehen. "Meine Gene müssten eigentlich sehr gut sein. Meine Mutter ist 99 Jahre alt geworden. Ihr ganzes Leben lang war sie sehr fit." 

2020 hatten er und seine Frau sich einen lang gehegten Traum erfüllen wollen: sechs Wochen Australien auf eigene Faust. Die Flüge waren gebucht, die Unterkünfte auch, der Mietwagen war reserviert. Aber dann verhängte Australien wegen Corona einen Einreisestopp, die Flüge wurden gestrichen. 

Australien Uluru Ayers Rock
Ursprünglich wollten Peter Schmidtgen und seine Frau in diesem Jahr nach Australien reisenBild: picture-alliance/Zuma/Earl S. Cryer

Heute ist Schmidtgen froh, dass sie die Reise nicht antreten konnten. "Corona hätte mich dann vielleicht irgendwo im australischen Outback erwischt, ohne jegliche medizinische Versorgung." 

Solange er gesund war, habe er immer gedacht, er sei gegen alles immun. "Aber jetzt habe ich festgestellt, dass es eben nicht so ist. Und wenn ich an all diese Leugner denke, die Corona nicht ernst nehmen, wenn ich an die denke, die glauben, so etwas könnte ihnen nicht passieren, da bin ich doch ein gutes - und Gottseidank noch lebendes - Beispiel dafür, dass es jedem passieren kann." Enttäuscht sei er vor allem darüber, dass so viele Menschen Corona auf die leichte Schulter nehmen. 

Deutschland Coronavirus - Intensivstation Krankenhaus Bethel Berlin
Schmidtgen wurde ins Koma versetzt und künstlich beatmetBild: Kay Nietfeld/dpa/picture alliance

Silvia Lindenberg kann da nur zustimmen. Seit vielen Monaten schon kümmert sie sich um die Spätfolgen von COVID-19. Die Corona-Leugner machten ihr keine Angst, sie machten sie wütend. "Es wäre sicher gut, wenn solche Menschen mal mitbekommen würden, wie es tatsächlich auf einer Corona-Intensivstation aussieht. Ich finde es sehr wichtig, dass die Menschen immer wieder mit der Nase darauf gestoßen werden. Ich glaube, man kann es gar nicht oft genug sagen, auch wenn viele davon genervt sind. Wir dürfen nicht aufhören, immer wieder darauf aufmerksam zu machen: Corona ist eine schwere Erkrankung, die kann man nicht einfach so locker sehen." 

Corona-Patient Schmidtgen - Atacama-Wüste, Chile
Eine ihrer Reisen führte Schmidtgen und seine Frau in die Atacama-WüsteBild: privat

Schritt für Schritt

Schmidtgen ist ein Kämpfer. Sich hängen lassen, gibt es für ihn nicht. Trotz allem, was er bislang mitmachen musste, hat er eine bewundernswert positive Lebenseinstellung bewahrt. "Alles, was ich vorher gemacht hatte, kann ich jetzt nicht mehr machen. Eigentlich sollte mich das belasten, aber so bin ich nicht. Ich denke, das schaffe ich. Ich denke, das kommt alles wieder." 

Die Freunde und die Verwandten, die sich regelmäßig melden, sind ihm sehr wichtig. Sie geben ihm Rückhalt. Und er ist stolz auf seine Frau, die ihm zur Seite steht. Auch sie war Corona-positiv. Auch sie lag zwei Wochen im Krankenhaus, aber mit einem glimpflichen Verlauf.

Geheiratet haben sie 2003. Gemeinsam sind sie viel gereist: Botswana, Argentinien, Chile, und viele andere Länder haben sie erkundet. "Wir waren sehr viel unterwegs, und wir sind immer individuell gereist: Rucksack an und los, durch die ganze Welt. Ich bin mit dem Fahrrad mal quer durch die USA gefahren, von Küste zu Küste - vom Pazifik zum Atlantik." 

Corona-Patient Peter Schmidtgen - Botswana
Peter Schmidtgen ist zuversichtlich, dass er irgendwann auch wieder reisen kannBild: privat

Auch am Mount Everest war er schon. "Da habe ich zum ersten Mal gespürt, was Luftnot ist. In einer solchen Höhe ist der Sauerstoff sehr knapp. Du atmest schnell, aber der lebenserhaltende Sauerstoff kommt einfach nicht an", beschreibt Schmidtgen seine damaligen Erfahrungen. 

Vor zwei Jahren waren er und seine Frau in der Antarktis. "Das war schon ein tolles Erlebnis", erinnert sich Schmidtgen. Von solchen Erlebnissen könne er heute zehren. "Wenn du positiv denkst, dann geht es irgendwann immer wieder aufwärts im Leben."