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Impf-Champion verhängt neue Ausgangssperren

13. Juni 2021

Kaum ein Land hat so große Teile seiner Bevölkerung gegen Corona geimpft wie Chile. Trotzdem verzeichnet es erneut rekordverdächtige Infektionszahlen. In der Hauptstadtregion gilt nun wieder die höchste Lockdown-Stufe.

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Gesperrte Parkbänke vor dem Präsidentenpalast durch Gitterstäbe fotografiert
Wie leergefegt: der Platz vor dem Präsidentenpalast in Santiago de Chile am SamstagBild: Ivan Alvarado/REUTERS

Seit diesem Wochenende gilt in der Metropolregion von Santiago de Chile wieder die strengste von vier Lockdown-Stufen. In aller Kürze bedeutet die kollektive "Quarantäne": Nur, wer in systemrelevanten Berufen arbeitet, darf dafür das Haus verlassen. Spazieren gehen oder Sport treiben ist nur in den Morgenstunden mit Personen aus demselben Haushalt erlaubt. Die Dinge des täglichen Bedarfs darf man zweimal pro Woche einkaufen - für zwei Stunden.

Chiles Präsident Pinera appellierte an die Menschen, den Regeln zu folgen und stellte in Aussicht, dass der neuerliche Lockdown dann vielleicht schon in zwei Wochen wieder auf eine niedrigere Stufe herabgesetzt werden könnte.

Impfziel zu 58 Prozent erreicht

Seit Mitte April kämpft Chile mit so hohen Infektionsraten wie seit Juni 2020 nicht mehr. Im Mai war die Sieben-Tage-Inzidenz zwar etwas abgefallen. Seit einer Woche aber bewegt sie sich wieder auf nationalem Rekordniveau von rund 260 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner. Die Hauptstadtregion, in der fast die Hälfte der Bevölkerung lebt, ist besonders betroffen.

Infografik Impffortschritt Chile DE

Ausgerechnet in Chile, dem Impf-Champion aus Lateinamerika, hätte man mit diesem Verlauf nicht gerechnet, denn das Land setzt seine ambitionierte Impfstrategie äußerst konsequent um. Fast neun der knapp 20 Millionen Menschen in Chile sind bereits vollständig geimpft. Weitere 2,5 Millionen haben die erste von zwei Dosen erhalten.

Damit hat Chile sein Ziel, gut drei Viertel der Bevölkerung zu impfen, zu 58 Prozent erreicht. Drei Viertel gelten als ausreichend, um eine sogenannte Herdenimmunität zu erzielen, bei der größere Ausbrüche der betreffenden Krankheit extrem unwahrscheinlich werden. Wenn Chile im aktuellen Tempo weiter impft, könnte es dieses Ziel im Laufe des Augusts erreichen.

Viele Infektionen trotz hoher Impfquote

Israel ist das einzige Land mit mehr als zwei Millionen Einwohnern, das einen höheren Anteil der Bevölkerung vollständig geimpft hat als Chile, nämlich knapp 60 Prozent. In Israel aber ist die Pandemie praktisch beendet. Die Sieben-Tages-Inzidenz lag dort am vergangenen Freitag bei 1,3.

Polizisten und Zivilisten in mehreren Gruppen in einer sonst leeren Fußgägnerzone mit geschlossenen Geschäften
Polizisten kontrollieren die Ausgangserlaubnis von Passanten in einer Fußgängerzone in Santiago de ChileBild: Esteban Felix/AP Photo/picture alliance

Es gibt eine Reihe möglicher Gründe dafür, dass die Inzidenz in Chile 200-mal höher liegt als in Israel. Einer davon setzt bei der Impfkampagne selbst an: In Israel bekamen nahezu alle Impflinge das Vakzin von BioNTech/Pfizer, die übrigen den von Moderna. Beide sind mRNA-Impfstoffe. In Chile hingegen waren mehr als drei Viertel der verabreichten Dosen vom chinesischen Sinovac, einem sogenannten Totimpfstoff, der relativ schnell in großen Mengen hergestellt werden kann.

Impfstoffe unterschiedlich wirksam

Für die beiden mRNA-Impfstoffe von Biontech und Moderna haben Studien eine Wirksamkeit von rund 95 Prozent ergeben. Studien zur Wirksamkeit von Sinovac haben sehr unterschiedliche Ergebnisse hervorgebracht. Vor allem in Südamerika lag sie deutlich niedriger: In Brasilien schützte der Totimpfstoff Impflinge nur zu etwa 50 Prozent vor symptomatischen Erkrankungen und schweren Verläufen, in Chile immerhin zu 63 Prozent. Die Wirksamkeit gegen eine Ansteckung und damit auch gegen die Verbreitung könnte noch niedriger sein.

Infografik verimpfte Vakzindosen in Chile DE

Die schlechteren Studienergebnisse könnten darauf hinweisen, dass Sinovac vor allem gegen die brasilianische Variante P.1 weniger wirksam ist. Die inzwischen von der WHO "Gamma" getaufte Mutation gilt ohnehin als doppelt so ansteckend wie der ursprüngliche Virusstamm und ist mittlerweile auch in Chile die verbreitetste Variante.

Im Ergebnis pendelt sich die Sterblichkeit in Chile auf einem etwas niedrigeren Niveau ein, als in vorherigen Monaten. Das deutet darauf hin, dass Sinovac zumindest die Verläufe abmildert. Dennoch stoßen die Intensivstationen im Großraum Santiago derzeit wieder an ihre Kapazitätsgrenzen.

Lockdown-Müdigkeit und wirtschaftliche Not

Einen weiteren Grund sehen Fachleute in Chile im Verhalten der Bevölkerung: Nach dem monatelangen Hin und Her zwischen harten und milderen Auflagen seien die Menschen müde, sagte die Intensivmedizinerin Marcela Garrido, Leiterin der Epidemiologie am Klinikum der Universidad de los Andes in Santiago de Chile, der chilenischen Tageszeitung La Tercera: "Die Menschen verlieren den Respekt vor den Maßnahmen, und die Menschen bleiben nicht mehr zu Hause - das hat ökonomische aber auch mentale Gründe." 

Die Möglichkeit von zu Hause aus zu arbeiten, steht deutlich weniger Menschen offen als in Europa oder eben Israel. Dessen ist sich auch die Regierung bewusst. Ende der Woche kündigte Präsident Piñera weitere Hilfen für kleine und mittlere Unternehmen an, die durch die Einschränkungen in Schwierigkeiten geraten sind.

Aber auch im - an regionalen Standards gemessen - wohlhabenden Chile arbeiten viele Menschen ohne festen Arbeitsvertrag. Der ökonomische Druck habe viele Menschen dazu gebracht, das Haus entgegen den Anweisungen zu verlassen, erklärt Lidia Amarales, Gesundheitsexpertin von der Universidad de Magallanes in Punta Arenas in La Tercera: "Ich bin nicht dafür, den Leuten die Schuld zu geben." Man hätte den Menschen besser erklären müssen, worum es geht und möglichst einfache, aber verständliche Regeln an die Hand geben müssten. "Das wurde die ganze Pandemie über vernachlässigt."

Jahreszeit begünstigt Verbreitung

Dass die Infektionszahlen ausgerechnet jetzt wieder so hoch gestiegen sind, sagen Experten, könnte aber auch daran liegen, dass die Menschen sich angesichts der hohen Impfquote sicherer fühlten. Und wie bei vielen Viren, die über die Atemwege aufgenommen werden, spielt aber auch bei SARS-CoV-2 die Jahreszeit eine Rolle: In Chile beginnt gerade der Winter. Und schon 2020 war es Juni, als das Land seine erste große Corona-Welle erlebt.

 

Jan Walter Autorenfoto
Jan D. Walter Jan ist Redakteur und Reporter der deutschen Redaktion für internationale Politik und Gesellschaft.