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Corona: Deutschland auf dem Weg ins Ungewisse

2. April 2022

Die meisten Corona-Schutzmaßnahmen in Deutschland werden beendet. Dabei sind die Infektionszahlen hoch - und das größte Problem des Landes ist nicht gelöst: Im westeuropäischen Vergleich bleibt die Impflücke groß.

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Deutschland Offenbach | Coronavirus | Intensivstation
Bild: Sebastian Gollnow/dpa/picture alliance

Dirk Paessler ist derzeit mit seinen Modellen zur Entwicklung der Corona-Pandemie in Deutschland am Ende. Dabei hat der Unternehmer in den vergangenen zwei Jahren häufig sehr genau die Entwicklung der Pandemie in Rechenmodellen beschrieben. 

Niemand könne jetzt sicher prognostizieren, wie sich die Infektionszahlen in den kommenden Wochen entwickeln würden, sagt der Unternehmer aus Süddeutschland.

Fast überall in Deutschland fallen an diesem Wochenende die meisten Corona-Schutzmaßnahmen: In Geschäften müssen keine Masken mehr getragen werden, in Restaurants werden von den Gästen weder Impfnachweise noch negative Testergebnisse mehr verlangt. Deutschland folgt damit dem Beispiel seiner westeuropäischen Nachbarländer. Dabei gibt es einen großen Unterschied: Während in Spanien in den meisten Regionen im Sieben-Tages-Durchschnitt bei weniger als 300 Menschen am Tag pro 100.000 Einwohner eine Coronavirus-Infektion registriert wird, sind es in Deutschland in vielen Landstrichen mehr als 2000. Deutschland verzeichne Höchststände und "die höchste Dunkelziffer" der ganzen Pandemie, sagt Paessler im Gespräch mit der DW.

Eine gebrauchte Maske liegt auf dem Boden, im Hintergrund die Skyline der Frankfurter Innenstadt
Auch in Deutschland endet die MaskenpflichtBild: Florian Gaul/greatif/picture alliance

Gefahr neuer Varianten

Es sei unverantwortlich, jetzt "ohne Not alle Regeln fallen zu lassen", meint Paessler. Niemand könne die weitere Entwicklung der Pandemie in Deutschland voraussagen. Bis heute fehle es an flächendeckenden Abwasser-Untersuchungen wie in Großbritannien. Dort können steigende Corona-Infektionen regional früh erkannt werden. "Wollen wir hoffen, dass nicht irgendwann ein noch ansteckenderes Virus auftaucht", das kränker mache als die Delta-Variante, sagt Paessler. Deutschland würde den "Anfang gegebenenfalls gar nicht merken, bis die Intensivstationen wieder ohne Vorwarnung volllaufen." Paessler hat mit Beginn der Pandemie begonnen, eigene Infektions-Modelle zu berechnen, weil ihm die Grafiken vieler staatlicher Institutionen in Deutschland zu ungenau waren. Eigentlich arbeitet er als Manager für zwei Klimaschutz-Unternehmen in Süddeutschland. 

Deutschland springe also in ein schwarzes Vorhersageloch - weil die Schutzmaßnahmen fallen. Gut möglich, dass bis weit in den Sommer hinein die Probleme durch Personalausfälle anhalten. Viele Menschen infizieren sich, haben meist wegen der Omikron-Variante einen leichten Krankheitsverlauf - fallen aber trotzdem bei der Arbeit aus. Zum Beispiel in den Krankenhäusern, wo in den vergangenen Wochen die Einweisungen von Corona-Kranken zumindest auf den Normalstationen anstiegen.

Große Impflücke in Deutschland

Das liegt auch an der im westeuropäischen Vergleich noch immer großen Impflücke in Deutschland. Vor allem bei den über 60-Jährigen. Das geht aus den Daten der EU-Gesundheitsbehörde ECDC hervor. Demnach waren bis Mitte Februar 89,6 Prozent der über 60-Jährigen in Deutschland vollständig geimpft (ohne Booster-Impfung), in Spanien in dieser Altersgruppe mehr als 98 und in Portugal sogar 100 Prozent. Auf der iberischen Halbinsel wurden die Menschen mit guter Kommunikation zum Impfen gebracht. Die Gesundheitsbehörden haben sie direkt angeschrieben und zu einem Impftermin eingeladen.

Das gibt es bis heute in Deutschland nicht. Hier steigen seit Anfang des Jahres die Impfzuwächse auch bei der Grundimpfung nur langsam: Das Robert-Koch-Institut (RKI), die nationale Gesundheitsbehörde, registrierte Mitte Januar bis Mitte Februar ein Plus von 2,3 Prozentpunkten. Ohne flächendeckende Immunisierung dürfte es aber immer wieder zu schlimmen Corona-Ausbrüchen kommen in der kalten Jahreszeit, wenn sich das Virus in Innenräumen leicht verbreitet.

Eine große Imfpflücke macht es dem Virus zudem leicht, sich weiter zu entwickeln: Es testet seine Fitness zwischen Geimpften und Ungeimpften. Nach den RKI-Zahlen zu schließen, lassen sich offenbar immer weniger Nichtgeimpfte noch überzeugen, sich eine Spritze gegen COVID-19 geben zu lassen.

Keine Mehrheit für Impfpflicht

Eine Impfpflicht für Menschen ab 18 Jahren sollte hier Abhilfe schaffen. Doch in den vergangenen Tagen wurde deutlich, dass die in Deutschland politisch offenbar nicht mehr durchsetzbar ist. Noch im Februar legten Abgeordnete aller drei Regierungsparteien einen entsprechenden Gesetzesentwurf vor. Für dieses Gesetz erreichen die Regierungsparteien SPD, Bündnis90/Die Grünen und FDP aber keine Mehrheit unter ihren Abgeordneten. Vor allem viele Politikerinnen und Politiker der liberalen FDP wollen den Deutschen nicht vorschreiben, ob sie sich impfen lassen müssen oder nicht.

Symbolbild Debatte zur Impfpflicht im Deutschen Bundestag
Bislang ohne Durchbruch: Debatte um Impfpflicht im Deutschen BundestagBild: Political-Moments/imago images

Für den Pandemie-Modellierer Dirk Paessler ist damit klar, dass die Gefahr durch das SARS-CoV-2-Virus in die Zukunft getragen wird. Dabei hätte Deutschland "einen Großteil dieses Risikos zu kleinem Preis vermeiden können". Anders als in Ländern wie Spanien oder Portugal sei es für Deutschland unklar, ob das Virus in diesem Jahr wirklich nachhaltig zurückgedrängt werden könne. "Warum setzt man eine der größten Volkswirtschaften der Welt so einem Risiko aus?"

Für den Unternehmer ist klar, dass "wir im Herbst ohne Regeln sicher nicht durchkommen werden". Das würde heißen, dass die an diesem Wochenende in Deutschland aufgehobenen Schutzmaßnahmen bald wieder eingeführt werden müssten. Er glaubt, Corona gehe - zumindest in Deutschland - lediglich in die nächste Runde.

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