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CONIFA-WM: Fußball als Plattform der Versöhnung

Sam Gasson
2. Juli 2022

Mit acht Jahren musste sich Jamyang Chotso bei ihrer Flucht aus Tibet tagsüber in Höhlen verstecken und nachts laufen - ohne ihre Eltern. Jetzt führt sie bei der alternativen Fußball-WM ihr Team als Kapitänin an.

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Die 25-Jährige Jamyang Chotso will mit ihrer Mannschaft zur Symbol einer neuen tibetischen Jugend werden
Die 25-Jährige Jamyang Chotso will mit ihrer Mannschaft zur Symbol einer neuen tibetischen Jugend werdenBild: Tibetan National FA

Als sie zwölf Jahre alt war, trat Jamyang Chotso zum ersten Mal gegen einen Fußball - in einer Flüchtlingsunterkunft in Dharamsala, der Stadt in den Bergen von Nordindien: Dort, wo der Dalai Lama und die tibetische Exil-Regierung ihren Sitz haben. "Ich hatte nicht mal Schuhe", erinnert sich Chotso. "Wir spielten auf einem staubigen Schul-Fußballplatz." 

Chotso ist Innenverteidigerin und Kapitänin des FC Tibet, dem Gastgeberteam der CONIFA-WM. Der Verband von unabhängigen, nicht im Fußball-Weltverband FIFA organisierten Teams aus aller Welt richtet zum ersten Mal ein Turnier für Frauen-Teams aus. 

Tibet Fußball Frauennationalmannschaft Jamyang Chotso
Jamyang Chotso: "Wir dürfen unsere Eltern nicht besuchen und sie dürfen nicht hierher kommen"Bild: Tibetan National FA

Für die 25-jährige Chotso ist es die Wiederannäherung an das Land, das sie als kleines Kind verlassen musste. Tibet war bis zur völkerrechtlich umstrittenen Eingliederung in die Volksrepublik China im Jahr 1950 ein eigenständiger Staat. Wie viele Tibeter entschlossen sich auch ihre Eltern, ihre Kinder fortzuschicken. Fluchthelfer brachten Chotso und ihre Geschwister nach Nordindien. "Ich war damals zu jung, um zu verstehen, was passiert", sagt sie der DW. Sie habe einfach nicht verstanden, warum ihre Eltern entschieden hatten, sie nach Indien zu schicken. 

Flucht, Herkunft und Stolz 

Ihre gefährliche Reise führte sie aber zunächst nach Nepal. "Wir waren nachts unterwegs und mussten uns in Höhlen verstecken, weil es zu gefährlich war, tagsüber zu laufen", erzählt Chotso, die heute hauptberuflich als Krankenschwester in Neu-Delhi arbeitet. Den Rest des Weges in das nordindische Flüchtlingslager brachte sie dann im Kofferraum eines Autos hinter sich.

Nach Tibet ist sie bis heute nicht zurückgekehrt. "Wir wissen nicht, was die chinesische Regierung tun würde", erklärt Chotso, die ihre Eltern wohl nie wieder sehen wird. "Aufgrund strenger behördlicher Auflagen dürfen wir unsere Eltern nicht besuchen und sie können nicht hierher kommen", sagt Chotso, die in ihrem Dorf mit anderen geflüchteten Kindern eine tibetische Schule besuchte.

Trotz der sehr limitierten Trainingsmöglichkeiten entdeckte sie hier den Spaß am Fußball. "Es gab keine Turniere, an denen wir hätten teilnehmen können", erklärt Chotso. Und fußballspielende Frauen seien ohnehin nicht gewollt gewesen. 

Es sei dem Engagement ihrer Trainerin, einer Amerikanerin namens Cassie zu verdanken, dass sie sich als Sportlerin und Fußballerin weiterentwickelt hat, sagt Chotso. Zwölf Jahre nach ihrem ersten Kontakt mit dem Fußball ist sie Kapitänin des FC Tibet, ihr großer persönlicher Stolz. "Auch wenn wir in Indien leben, dürfen wir niemals unsere Herkunft vergessen", sagt Chotso. 

Der 44- jährige Gompo Dorjee ist Exil-Tibeter und führt den FC Tibet als Trainer in die CONIFA-Weltmeisterschaft
FC Tibet-Trainer Gompo Dorjee: "Die WM hat eine politische, kulturelle und emotionale Kraft"Bild: Tibetan National FA

Die Herkunft und den Stolz teilt auch der Trainer des FC Tibet, Gompo Dorjee, mit ihr. Der 43-Jährige lebt im indischen Clement Town, stammt jedoch aus dem tibetischen Dege, der Heimat seiner Eltern. Auch er fühlt eine "politische, kulturelle und emotionale Kraft" im Hinblick auf das Turnier. Da der Tibetische Sportverband (TNSA) das Turnier nicht in der Heimat ausrichten kann, wird in der indischen Industriestadt Paonta Sahib am Ufer des Yamuna-Flusses gespielt.

Anerkennung für staatenlose Sportlerinnen und Sportler

Im Gegensatz zur FIFA ist die CONIFA trotz 50 Mitgliedern, die über 700 Millionen Menschen weltweit repräsentieren, weitgehend unbekannt.

Der Verband selbst beschreibt sich als politisch neutrale Organisation, deren Ziel es ist, durch "Freundschaft, Kultur und die Freude am Fußball Brücken zu bauen". Für Jamyang Chotso geht es bei dem Turnier vom 1. bis zum 6. Juli um weit mehr als die Siegertrophäe. Nämlich darum, den Fußball, der aus ihrer Sicht aus der tibetischen Kultur verdrängt worden sei, zurück ins nationale Bewusstsein zu bringen.

"Fußball ist eine Möglichkeit, mit Menschen auf der ganzen Welt in Kontakt zu treten", sagt sie, und sie hofft, dass das Turnier als "Schaufenster der tibetischen Ethik und Kultur" dienen wird. Auch für den Frauensport im Allgemeinen sieht Chotso in dem Turnier einen großen Durchbruch und hofft, dass sie und ihre Mitspielerin junge Mädchen inspirieren können. 

Kulturwandel durch Fußball?

Gompo Dorjee sagt, viele seiner Spielerinnen hätten eine ähnliche Geschichte wie Chotso und lobt ihre "Leidenschaft und Aufopferung". Die meisten Spielerinnen sind gleichzeitig Studenten und Krankenschwestern, die "früher", so der Trainer, nicht Fußball gespielt hätten. Aus seiner Sicht werde die Weltmeisterschaft eine große Rolle im kulturellen Leben Tibets spielen, "indem sie die tibetischen Frauen stärkt".

Für das langjährige CONIFA-Mitglied TNSA ist die Ausrichtung des Turniers ein wichtiger Meilenstein in der gezielten Förderung des Frauenteams. In Paonta Sahib hat er in einer tibetischen Siedlung ein Stadion errichtet, in dem das Turnier gespielt wird. Der Verband erhofft sich, "die Jugend Tibets zu motivieren und im Kampf für unsere Identität und Kultur etwas zu bewirken."

Stellvertretend für diese tibetische Jugend steht Jamyang Chotso. Ob sie gewinnt oder verliert - der Fußball ist ihre Plattform, um sich für Tibet einzusetzen und sich mit dem Land, das sie als Kind verließ, wieder zu verbinden.

Aus dem Englischen adaptiert von David Vorholt