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Politik

Braindrain: Größte Gefahr für Russland?

Miodrag Soric
9. März 2017

Ein reißerischer Aufmacher in der Einladung des liberal-konservativen Washingtoner Think Tanks "Atlantic Council": "Der Putin-Exodus – Russlands neuer Braindrain". Doch die Lage ist komplizierter.

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Russland Domodedovo Flughafen in Moskau
Bild: Getty Images/AFP/D. Serebryakov

Alina Polyakova vom Atlantic Council zitiert offizielle Daten der russischen Regierung: Zwischen 2000 und 2014 haben 1,5 bis 1,8 Millionen Russen ihre Heimat verlassen. Sie hob hervor, dass die Zahl nach 2012 - also nach den jüngsten Präsidentschaftswahlen mit der auch politische Restriktionen einhergingen - deutlich angestiegen sei. Russland, riesig in Fläche, leide bekanntermaßen unter einer rückläufigen Demographie. Vor diesem Hintergrund stelle die Auswanderung so vieler eine "erhebliche Gefahr für die nationale Sicherheit" dar. Seit 1991 hätten rund 800.000 russische Wissenschaftler ihrer Heimat den Rücken zugekehrt. "Das sind Menschen, die die einheimische Wirtschaft benötigt", so Polyakova. Der Wegzug so vieler Fachkräfte sei ihrer Meinung nach die "Bedrohung Nr. 1" für die Russische Föderation. Moskau brauche diese Menschen auch, um seine Stellung in der Welt zu behaupten.

USA Washington, Veranstaltung Braindrain in Russland | Evgenia Chirikova, Umweltaktivistin
Die Umweltaktivistin Evgenia Chirikova, Bild: DW/M. Soric

"Wer in den letzten Jahren emigrierte, kann weiter Russland helfen”, meint die Umweltaktivistin Evgenia Chirikova. Im Ausland habe sie viel über die Organisation von zivilgesellschaftlichen Protest- und Basisbewegungen gelernt. Das möchte sie jetzt in Russland anwenden. Chirikova, die 2011 und 2012 Proteste gegen Putin mit organisierte, lebt derzeit in Estland.

In beiden Welten zuhause

Letztlich sei nicht nur die Zahl der Auswanderer beunruhigend, so Dr. Sergei Erofeev, der derzeit als Berater an der Rutgers-Universität in New Jersey arbeitet. Besorgnis erregend sei, dass die am meisten Qualifizierten dem Land den Rücken zukehrten. Er beklagte, dass der Kreml zu wenig Geld in Schulen, Universitäten oder in die Forschung investiert. Das allgemeine Bildungsniveau in Russland drohe abzufallen. Russlands Wirtschaft könne Top-Wissenschaftlern oft keine adäquate Beschäftigung und Bezahlung bieten. Der heutige Exodus würde sich aber deutlich von dem zur Zeit des Kalten Krieges unterscheiden: Auswanderer würden ihre alten Heimat nicht für immer verlassen. Oft behielten sie die russische Staatsbürgerschaft, verfolgten laufend die Lange in Russland. Sie seien bereit zurück zu kehren, wenn es wirtschaftlich wieder bergauf geht.

USA Washington, Veranstaltung Braindrain in Russland | Alina Polyakova & Mikhail Kokorich
Alina Polyakova vom Atlantic Council und der Unternehmer Mikhail Kokorich Bild: DW/M. Soric

Ähnlich denkt auch der Physiker und Unternehmer Mikhail Kokorich, der derzeit in Kalifornien lebt. Russische Top-Manger im Ausland würden oft Aufträge vergeben an Firmen oder Institute in ihrer früheren Heimat. "Sie kennen beide Welten und pendeln oft hin und her", so Kokorich gegenüber der Deutschen Welle. Viele seiner Kollegen würden auswandern, weil es im Westen leichter sei, Investoren für wirtschaftliche Projekte zu finden. Er beklagte die mangelnde Risikobereitschaft in Russland. Für den Westen spreche eine transparente Gesetzgebung sowie weniger Korruption. Entscheidungen russischer Behörden – auch auf kommunaler Ebene – würden der einheimischen Wirtschaft mehr schaden als die Sanktionen des Westens, sagt Kokorich.

Push-Faktor Politik?

Die Diskussionsteilnehmer beim Atlantic Council schienen sich darin einig zu sein, dass es derzeit vor allem wirtschaftliche Gründe sind, die die russische Elite zur Ausreise bewegen. Bereits im Mai 2016 befragte die russische Personalvermittlungsfirma "Agentswo" 467 Top-Manager russischer und ausländischer Unternehmen. Das Ergebnis: Fast jeder sechste russische Spitzen-Manager hat in den nächsten zwei Jahren vor, in ein anderes Land auszuwandern. Die meisten wollen in die USA, nach Deutschland oder nach Großbritannien.

Nach wie vor gebe es aber auch Menschen, die aus politischen Gründen Russland verlassen. Evgenia Chirikova verwies auf die Verfolgung von Menschen, die sich in Russland politisch engagieren, sei es in der Opposition oder bei Organisationen wie "Memorial" oder anderen NGOs.

In den letzten Jahren hatte eine Studie des US-amerikanischen Think-Tanks "Stratfor" für Diskussionen gesorgt – auch in Russland. Die Analyse stellte einen Zusammenhang her zwischen der Bereitschaft auszuwandern und politischen Krisen wie der Besetzung der Krim durch Moskau.

Mikhail Kokorich hät wenig von der Dämonisierung von Präsident Putin. Vergleiche mit sowjetischen Diktatoren wies er zurück. Die jetzige russische Regierung sei nicht völlig schlecht. Doch immer mehr Menschen in Russland verstünden, dass sich die Lage ändern müsse; spätestens, wenn eines Tages Putin abtritt. Der "Brandrain" bleibe eine Bedrohung für Russlands Stellung in der Welt. Am Ende der Veranstaltung kündigte das Atlantic Council an, in den kommenden 18 Monaten ein eigenes Forschungsprojekt zu diesem Thema auf die Beine zu stellen.